Die Dimension der Asynchronität …

By cjg on 30. März 2016 — 3 mins read

Weit über seine Tasche gebeugt, stand er an der Theke und schien sich einige Verschlüsse oder Riemen an ihr genau zu betrachten. Normal hätte man seine Kleidung genannt, nicht außergewöhnlich oder ungepflegt. Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Das Gespür war hier gründlicher als der Blick. Wahrscheinlich im Bruchteil einer Sekunde empfing man einen Eindruck, den die Augen und der Verstand nur mühsam in Worte fassen konnten.

Auffällig war zunächst, dass er von Zeit zu Zeit ein wenig schwankte. Auch trank oder aß er nichts. Nun, vielleicht war er im Aufbruch begriffen oder wartete auf jemanden? Er schien sich irgendwie nicht an die Gepflogenheiten zu halten. Nicht, dass er sich etwa unflätig benahm, sondern eher irgendwie asynchron. Er schien in einer anderen Zeit, jedoch am gleichen Ort zu sein.

Gefährlich war er nicht, jedenfalls nicht augenscheinlich. Er tat niemanden etwas zu Leide, stand ganz ruhig da – vielleicht bis auf das schon erwähnte, leichte Schwanken ab und zu. Dennoch verbreitete er eine Art Unruhe. Die Menschen mieden seine Nähe und setzten sich woanders hin. Ganz instinktiv, denn sie hatten sich dazu entschieden in nicht mehr als Sekunden, die ihnen zuvor zur Platzwahl geblieben waren.

Er schien eine Art Aura um sich zu haben, einen unsichtbaren Bannkreis. Wer sich in seine Nähe wagte konnte nicht umhin, ab und an verstohlen in seine Richtung zu sehen. Die Augen und der Verstand wollten die Abweichungen registrieren und einordnen. Diese Prozeduren der Absicherung liefen quasi automatisch.

Er schwankte bald dermaßen, dass sein Kopf nicht nur die Tasche vor ihm berührte, sondern sogar leicht an die Thekenplatte schlug. Dennoch setzte er sich nicht, sondern stand nach wie vor leicht nach vorn gebeugt. Nach einem erneuten Zusammenstoß mit der Thekenplatte schreckte er hoch, um kurz danach den Kopf wieder in Richtung Tasche zu senken, an der er nach wie vor eifrig hantierte.

Ein Blick in sein Gesicht verriet, dass er unendlich müde sein musste. Er konnte die Augen tatsächlich kaum noch aufhalten und gab ein Bild, das ansonsten nur von kleinen Kindern bekannt ist, die von einer Sekunde auf die andere einschlafen. Die Qual, sich der Müdigkeit mit aller Gewalt zu entreißen, war überdeutlich spürbar und kroch beklemmend in die Beobachter hinein.

War es sein Geist, der ihn wach hielt und den Körper am Fall hinderte oder war es der Körper, der sich gegen die Sehnsucht des Bewusstseins stemmte, in den Traum abzugleiten? Möglicherweise war es weder das eine noch das andere, sondern ihr Zusammenspiel. Sein Oszillieren zwischen Gegenwart und Traumwelt strahlte förmlich in den Raum und seine Asynchronität mit der Situation gewann eine Art Dimensionalität, der man sich nicht entziehen konnte.

Irgendwann, ohne konkreten, äußeren Anlass streckte er sich, rieb mit einer Geste der äußersten Anstrengung die Augen, nahm seine Tasche auf die Schulter und – ging.

Er hatte die Gäste irgendwie berührt, sich verletzlich gezeigt, indem er im öffentlichen Raum die Selbstkontrolle aufgegeben hatte – nein, nicht einfach aufgegeben, sondern vielmehr den Kampf darum spürbar ausgetragen. Vielleicht war es auch dieses zur Dimension gewordene, erzwungene Vertrauen gegenüber seinen Mitmenschen, das alle zuvor gespürt hatten?

Langsam wurde seine Silhouette kleiner, bis er irgendwann im Nirgendwo verschwand. Er nahm dabei ein Stück von allen Anwesenden mit…

„…Es könnte nichts merkwürdiger sein, als einen Menschen bei irgend einer ganz einfachen alltäglichen Tätigkeit, wenn er sich unbeobachtet glaubt, zu sehen (…) wenn wir quasi ein Kapitel einer Biographie mit eigenen Augen sehen, – das müsste unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgendetwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte. Wir würden das Leben selbst sehen…”
(Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe; Frankfurt am Main 1984-1989; Band 8; S. 455)

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt