Das ungebaute Berlin …

By cjg on 24. März 2016 — 4 mins read

Es gibt manche Titel, die sofort neugierig machen. So auch der der Ausstellung: „Das ungebaute Berlin” .

Geht von dem „Un“ im Wort nicht eine starke Anziehungskraft aus? Wird hier denn nicht ein Nerv unserer Zeit getroffen? Weist dieses „Un” nicht auf das hin, was hätte sein können, macht es nicht eine Möglichkeit auf, weißt es also nicht auf eine -womöglich bessere- Zukunft hin?

Derartig sensibilisiert fällt der Weg zum Café Moskau in Berlin-Mitte nicht schwer. Der Übertritt in die Ausstellung verlangt allerdings einiges von einem ab. Zunächst nämlich, innezuhalten, damit man durch die Litanei von Zeichnungen nicht „erschlagen“ wird.

Mit teilweise verwirrten Blicken, die zwischen den Wänden und dem in der Hand liegenden Blatt Papier, auf dem 100 Positionen verzeichnet sind, wechseln, versucht der geneigte Besucher, sich zu orientieren.

Irgendwann hat man es dann verstanden und kann die Nummerierungen der Exponate den angegeben Beschreibungen von 1. (Joseph Maria Olbrich: Pariser Platz 1907) bis 100. (Peter Zumthor: Topographie des Terrors 1997) auf der Liste zuordnen. Dennoch verfliegt der Eindruck der Unübersichtlichkeit nur zäh.

Mit dem Katalog erschließt sich die Ausstellung besser und schneller. In ihm nämlich tauchen die Exponate von 1907 bis 1997 chronologisch geordnet wieder auf und sind mit einem Text versehen. Von diesem Erfolgserlebnis beflügelt, nimmt der Besucher dann auch die DIN A4-Ordner besser wahr, die auf den Tischen vor den Hängungen liegen und deren thematische Gruppierung deutlich werden lassen (die „Stadt als urbane Großform“ oder die „Stadt als Landschaft“).

Möglicherweise auch dem attraktiven Ort geschuldet (direkt gegenüber vom Kino International) strömen erfreulich viele Besucher in die kleine Ausstellung. Auffallend ist die Mischung, denn viele junge Leute (wahrscheinlich Architekturstudenten) stehen neben älteren Menschen, wahrscheinlich Rentnern und wahrscheinlich Anwohnern, die sich darüber freuen, endlich wieder Aktivität im Café Moskau zu erleben.

Einige Worte noch über das Ausstellungskonzept. Es könnte mit „ambitioniert” beschrieben werden. Hat man nämlich die Unübersichtlichkeit im ersten Geschoss hinter sich gelassen und die Wendeltreppe nach unten gefunden, steht man unversehens einem geheimnisvoll anmutenden Berliner Stadtplan gegenüber. Geheimnisvoll deshalb, weil Berlins Strukturen ausradiert (nämlich weiß) dargestellt sind und nur die ungebauten Entwürfe auftauchen.

Diese De-Kontextualisierung hat freilich ihren großen Reiz. Erscheint doch der städtebauliche Entwurf als Kunstobjekt. Weil die Stadt nicht in Gänze gezeigt wird, fällt es leicht, die autarke Struktur zu sehen. Dennoch sollte man dem reflektierenden Besucher nicht absprechen, dass er sich beginnt zu fragen, wie das Gesehene wohl genau gemeint ist. Immerhin sollen die Menschen in solchen Strukturen leben. Wie kann sich also ein Kunstobjekt in ein bestehendes städtisches Gewebe einordnen? Solches Reflektieren hätte besser gefördert werden können, wenn der Bestand -wenigstens hauchdünn- angedeutet gewesen wäre.

Das einzige dargestellte, radikale Implantat, das diese Kontextualisierungen gewagt und ausgehalten hat, ist ausgerechnet die Umgestaltung von Berlin zu Germania durch Albert Speer. Hier sieht man, wie die neuen und die alten Strukturen zusammenwirken. Hier scheint der große Wurf kein zusammenhangsloses Kunstobjekt zu sein. Hier erobert sich auch die Architektur den Städtebau zurück. Was mag man von solchen Zusammenhängen halten?

Im Untergeschoss nach rechts abgebogen, fängt eine Lauftschrift mit den Namen großer Architekten die neugierigen Blicke. Ob auch einem Nichtarchitekten das irgendetwas sagt, bleibt allerdings genauso im Dunkeln, wie der sich wiederum rechts anschließende, weitere Raum, in dem fünf freie „Ausstellungsinseln“ angeordnet sind. Will man alle Interviews, Projektionen und Zitate auf ihnen lesen, muss man sich allerdings rund eine halbe Stunde im unteren Bereich aufhalten. (Vielleicht geht es nur dem Architekt so, aber die vielen dozierenden Architektenstars wirken irgendwie schulmeisterlich und eine Spur überheblich).

Welcher Kollege kennt nicht die übliche Architekten-Lyrik? Dieser besondere Sprech à la: „…die Volumina wirken in ihrer verzahnten Eleganz egalisierend und stehen gleichzeitig im konkreten Austausch mit der Fluchtung des angrenzenden Bestands…“. Zeigt dieser Sprech sich nicht auch in einer kryptischen Darstellung von Architektur? Die Frage stellt sich hier, ob der geneigte Besucher nicht ziemlich alleingelassen wird in dieser Flut von Grundrissen, Perspektiven, Schwarzplänen und Modellen?

Deutlich wird auch an diesem Beispiel einer Architekturdarstellung, dass die Architektur eine Sonderform in den Künsten einnimmt. Der Spagat unserer Zunft wird vollführt zwischen Praxis und Idee, zwischen Nutzung und Design, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Und obwohl doch die Menschen ständig in der Architektur leben, scheinen sie Schwierigkeiten zu haben, sich ihr zu nähern. Vielleicht sind es aber auch die Architekten, die ihre Besonderheiten und ihren Ritus pflegen. Die Architekten, diese schwarzen Ritter mit Hornbrille und einem Saab vor der Tür…

Ist eine Ausstellung wie: „Das unbebaute Berlin“ für die Architekten oder die Menschen in der Stadt? Diese Frage scheint eine Gretchenfrage zu sein, genauso wie die folgende: Wer entscheidet eigentlich, welche (ungebauten) Entwürfe hier ausgestellt werden? Besteht dieses Berlin doch aus so viel mehr Visionen und Ideen, als die 100, die man zu sehen bekommt.

Spannend wäre es doch, einen (möglicherweise virtuellen) kompletten Stadtplan des „ungebauten Berlin“ zu bekommen, der permanent aktualisiert wird und in dem alle Planer, seien es nun Studenten, Aktive, Pensionäre und auch Laien ihre Stadt, ihre Un-Stadt, bauen können.

Spannend ist es in jedem Fall, dass Ungebaute zum Thema einer Ausstellung zu machen. Bekommt man auf diese Weise doch eine Genealogie von Visionen präsentiert. Eine Schau der gestalterischen Kraft von 1907-1997. Carsten Krohn (der Kurator) verdient Anerkennung für diese Idee. Mögen sich noch möglichst viele Leute während der letzten Ausstellungswoche mit ihrer Un-Stadt beschäftigen.

Erschienen: AZ/Architekturzeitung