Die Zeit, das Kind und die Frau …

By cjg on 28. März 2016 — 2 mins read

Da saß sie nun! Die Falten im Gesicht wirkten wie tiefe Gräben. Das Haar war lang, aber es glänzte nicht. Die grauen Strähnen ließen sich nur noch schwer verbergen. Wo waren ihre funkelnden Augen geblieben? Die Augen, die alle so bezaubern konnten?

Sie registrierte noch die Blicke der Männer, aber das berührte sie nicht mehr. Ja, sie war es sogar leid, ihre Überlegenheit zu zeigen. Sie hatte keinen Spaß mehr daran, mit ihnen zu spielen, ihre Eitelkeiten zu benutzen, um sie nach Herzenslust zu manipulieren.

*

Sie sorgte sich um ihr Kind. Das würde niemand bestreiten. Aber die Art ihrer Sorge war auffällig. Es schwang keine Zuneigung und Liebe, keine Weichheit und Freude, keine Leichtigkeit und Unbeschwertheit mit. Vielmehr erinnerte ihre Sorge nur an Routine und wirkte stets eine Spur distanziert. So fehlte es dem Mädchen augenscheinlich an nichts – und doch an allem.

Heute schnitt ihr jedes Lachen der Kleinen tief in die Seele. Mit jedem Laut wurde Sie sich des eigenen Verfalls klarer. Die spitzen Schreie kamen ihr vor wie Triumphgeheul einer Zukunft, die sie schon verloren gab.

Das Fortlaufen der Zeit war zu deutlich im Wachsen und Gedeihen ihrer Tochter. Seit einiger Zeit schon reichte das Band der Liebe nicht mehr, um sich darüber hinweg zu täuschen. Was stattdessen blieb, war ein kalter Blick auf das Unausweichliche.

Nein, sie hasste ihre Tochter nicht, aber sie hasste das, was sie an ihrer Tochter sah. Es kostete sie immer mehr Mühe, diesen Hass im Zaum zu halten. Sie glaubte mittlerweile, dass sie den Hass bräuchte, um überhaupt weitermachen zu können. Er ersetzte nach und nach ihren früher so unbändigen Lebenswillen.

*

Das Lebendigsein gehört der Zeit, es ist untrennbar verbunden mit ihr. Das war deutlich zu hören am fröhlichen und unbeschwerten Lachen ihrer Tochter. Doch was war mit ihr? Ihre Zeit verrann unaufhörlich, während die der Kleinen zu wachsen schien.

Sie fand keinen Trost. Sie war darüber hinaus. Die Frage, worüber sie hinaus war, marterte sie unaufhörlich – und auch die nach dem Ausweg. Sich töten? Dann wäre es nur noch schneller vorbei. Ihre Tochter töten? Was wäre damit erreicht? Vielleicht nur, dass sie ihren eigenen Verfall nicht ständig vor Augen haben müsste – aber, der Zweifel würde trotzdem bleiben.

Wo waren die Zeiten geblieben, in denen sie der Herrschaft der Zeit gelassen gegenüber getreten war? Die Zeiten, in denen diese Herrschaft sogar Ansporn bedeutete und sich das Lebendigsein darin steigerte? Wann war es passiert, dass sie abrutschte und der Zeit trostlos verfiel? Wann hatte sie sich ergeben, wann den Blick nach vorn vertauscht mit dem Blick nach unten?

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Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt