Balancen …

By cjg on 13. Februar 2016 — 3 mins read

G: Quell und Qual gleichzeitig ist die Welt im Kopf. Vorstellung tritt an die Stelle von Erfahrung. Gestellt wird etwas, bevor es passiert, bevor es eintritt. Das, was eintritt, muss im Nachhinein abgearbeitet werden und in die Stellung integriert, die im Kopf herrscht. Manchen Menschen gelingt das besser, als anderen.

Erfahrung scheint kein Ausweg zu sein aus der Kopfwelt, denn sie stimuliert lediglich zeitversetzt – neuer Wein in alten Schläuchen also. Möglicherweise ist der Moment einer Erfahrung der Selbstbetrug, sich Unvoreingenommenheit eingebildet zu haben.

Nein, eher X-Fach-Einbildung, denn ein Moment liegt in der Zeit, die ebenfalls Einbildung ist. Ein Selbstbetrug wäre lediglich eine aufgedeckte und offen liegende Vorstellung und sich einzubilden, keine Einbildung zu haben, wäre eine weitere Illusion…

W: „…Man kann sich vorstellen es sei etwas der Fall was nicht ist: sehr merkwürdig! Denn, daß die Vorstellung mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt ist nicht daß sie sie aber dann repräsentiert ist merkwürdig…“ (S. 279)

G: Liest man die Ergebnisse der Hirnforschung, scheint sie mittlerweile an diesem Punkt zu sein. Die „Zeit“ stellt einen Artikel ins Netz, in dem behauptet wird, dass Menschen permanent ein „phänomenales Selbstmodell“ erzeugen. Das heißt, anzunehmen, in der Welt zu sein, einen Körper zu haben, eigenständig zu sein, ist eine private Illusion. Fühlen zu können mit dem Körper gelingt ebenso illusorisch. Was wäre denn dann eine „lebendige“ Erfahrung und wie stünde sie im Gegensatz zum „eingepaukten“ Kopfwissen beispielsweise der Mathematik und der Logik?

W: „…Das Gefühl an das ich jetzt alle meine Betrachtungen knüpfe ist das von der Einzigkeit der Gedanken…“ (S. 281)

G: Wie lautet eine echte Wahl? Wo ist z.B. der Unterschied zwischen einem feingeistigen Intellektuellen und einem vulgären Leibesmenschen, denn beide bilden sich ihre Existenzen nur ein? Antwort: das ‘Prinzip’ des Ich mag ähnlich sein, aber Begegnungen zeugen von Differenzen, über die die Wahl geschehen kann. Sich die Illusionen selbst, klar und mit kühlen Herzen zu wählen, ist diese “echte” Wahl…

S: „…Der poetische Sinn besteht eben darin, zu der Wirklichkeit, der Realität, außer der Möglichkeit nichts zu bedürfen. Was poetisch möglich ist, ist eben deßwegen schlechthin wirklich, wie in der Philosophie, was ideal – real. Das Princip der Unpoesie wie das der Unphilosophie ist der Empirismus oder die Unmöglichkeit, etwas anderes als wahr und real zu erkennen, als was in der Erfahrung liegt..” (Band 5, S. 634)

G: Der Intellektuelle bleibt lieber in der Möglichkeit geborgen, als sich der „Faktizität“ auszusetzen. Eine „anti-virtuelle“ Alternative scheint es ohnehin nicht zu geben…

N: „…Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! — die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen…“

G: Wittgenstein „fühlt“ die Einzigkeit der Gedanken. Er überbrückt damit die Trennung von Geist und Leib. Schelling gibt der Möglichkeit denselben Stellenwert wie der Wirklichkeit. Er überbrückt damit die Trennung von Geist und Leib. Nietzsche erkennt die Illusion als allgemein menschliche Verkehrsform an. Er plädiert für das Handeln und glaubt an die wahre Erkenntnis. Sie ist grauenhaft. Was aber, wenn das Grauenhafte nicht im Gegensatz steht zu einem „Ueberschuss von Möglichkeiten“, sondern nur eine weitere ist?

Zitate:
N: „Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, München 1999; Band 1“
S: „Schelling Werke, Stuttgart 1856“
W: „Ludwig Wittgenstein: Wiener Ausgabe. Studientexte Band 1-5; Zweitausendeins-Ausgabe; Frankfurt am Main 1994“

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt