Gestern Abend hatte ich erneut Gelegenheit, klanglich/musikalisch ein Kernproblem der Wahrnehmung vorgeführt zu bekommen. Es gab in der Berliner Philharmonie mit Seiji Ozawa als Dirigent u.a. Anton Bruckners Symphonie Nr. 1.
Mit Bruckner und Mahler haben wir zwei Vertreter der Spätromantik, die gemeinhin als Antipoden gelten. Zu hören ist das sofort und es gedanklich zu verorten, gelingt sehr schön mit Sergiu Celebidache. Bei Mahlers Symphonie Nr. 3 vor einiger Zeit war deutlich geworden, dass dort der Grad an Fragmentierung dermaßen hoch ist, dass ein Zusammenhang nicht mehr erkennbar wird. Bei Bruckner gibt es eine mindestens ebenso hohe Komplexität, die jedoch in eine Struktur eingebettet ist und weniger radikal vergänglich daherkommt.
Woran mag das liegen? Bei Celibidache ist zu lesen: „…Bei einer Reihe von klanglichen Wahrnehmungen verschwindet jede einzelne Erscheinung…der transzendierende Geist ist (allerdings, CJG) weder bei dem ersten Glied einer Relation, noch bei dem zweiten, sondern er überschreitet alle beiden und eignet sich sie Essenz ihrer zusammenfassenden, wesensverwandten und zueinander bezogenen Beziehung an…(die Töne, CJG) integrieren sich in eine neuartige, höhere, die Teile transzendierenden Einheit, die das bleibende Werk, die ewig mögliche Funktion des menschlichen Geistes ist…“ (Sergiu Celebidache: Über musikalische Phänomenologie; Augsburg 2008; S. 23-25)
Nach dieser (trefflichen) Analyse verweigert Mahler das Transzendieren. Er lässt den Hörer im klanglichen Nebel stehen, der gebildet wird durch den Mangel an „Essenz“ und „Wesensverwandtheit“ der einzelnen Teile. Was bleibt, ist Verirrung und Verwirrung – eben ein Stochern im Nebel.
Bruckner führt uns ebenfalls klanglich in die „entzauberte Welt“ der Neuzeit des „anything goes“. Allerdings scheut er nicht die Struktur dabei, spannt einen Bogen über sein Werk und lässt den Hörer bei aller Dramatik, explodierender Rhythmik und etlichen Dissonanzen die Beziehungen der Teile untereinander erkennen.
Celebidache hierzu:„…Es (das Integrieren, CJG) handelt sich (allerdings, CJG) vielmehr nicht um eine Wiederherstellung, sondern um eine einmalige und erstmalige Neu-Herstellung, die nur eine Bedingung erfordert: die zwischen den Teilen und Seinsweisen existierenden, wechselseitig ergänzbaren, untereinander komplementären Beziehungen…“ (Ebd.)
Bruckners Bindemittel ist möglicherweise seine Religiosität. Er macht keinen Bogen um die Metaphysik einer „großen“ Transzendenz und schafft es vielleicht daher, deren innersubjektive Spielart klanglich zu ermöglichen.