Die Struktur des Flusses …

By cjg on 27. Januar 2016 — 2 mins read

Xenakis war also ein Mann, der sein Thema fand im Vor-reflexiven oder besser im Rück-reflexiven. Die Vorsokratik heißt ganz wörtlich so, weil die Philosophie vor Sokrates damit gemeint ist. Der nämlich hatte seinerzeit das Interesse verloren, sich Fragen danach zu stellen, wie Natur und Kosmos beschaffen sind. Vielmehr richtete er zeitlebens seinen Fokus auf den Menschen selbst.

Wenn man allerdings nach dem Anfang fragt und Anfang nicht gleichsetzt mit vergangen und irrelevant, sondern im Anfang die Struktur sucht, die allem (und ich meine hier allem) denkerisches Maß, Atmosphäre, Form und Gepräge gab, wenn also die Suche einen in diesen fruchtbaren und schöpferischen Anfang führt, dann ist man in der Vorsokratik genau richtig.

Xenakis sucht in seiner Musik die Matrix, die Grundstruktur und deshalb ist er in einem Denken genau richtig, das anfänglich ist, das noch nicht im Verdacht steht, christlich, atheistisch, aufklärerisch oder sonst wie zu sein, das ganz nah dran ist an den Fragen, die ein reflektierender Mensch (einer freilich, der der Nachwelt überlieferbar war) sich das erste Mal stellt.

Diese Fragen sind nicht diejenigen, die sich auf die Menschen untereinender richten, sondern auf die Welt, in der der Mensch ist. Fragen, die das „ist“ dieser Welt in den Mittelpunkt rücken, das mitschwingt beim Sätzen wie „der Baum ist schön“ – denn das etwas ist, deutet auf ein Sein des Seienden hin, das ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Fragen werden aufgeworfen, die in die Weite gerichtet sind und nicht in die Enge und Isolierung, nicht in ein Erklären-wollen zum Zwecke der Beherrschung, der Reproduktion und Addierbarkeit, sondern in ein Erkennen, das dem Menschen seinen Platz zeigt (oder zeigen hilft); seinen Platz in einem größeren Zusammenhang und in einem weiteren Horizont als den, den er selbst zu bilden vermag.

Diese Weite will Xenakis in seiner Musik verdeutlichen. Kommen wir noch einmal zu seiner Komposition „Metastasis“. Hier wird das „Glissando“ verwendet und mit ihm die herkömmliche musikalische Ordnung ersetzt durch eine kontinuierlich fortlaufende Struktur. Klanglichkeit repräsentiert nun Wandel, Fluss und Bewegung und ist nicht mehr ausgelegt auf ein „Springen“ von Effekt zu Effekt.

Erinnern wir uns an Schellings Deutung von Klang. Ihm kommt eine besondere Bedeutung bei für die Transformation des Absoluten in die endliche Materie: „…In der Einbildung des Unendlichen ins Endliche kann die Indifferenz, als Indifferenz, nur als Klang hervortreten…“ (Schelling, F.W.J.: Philosophie der Kunst; unveränderter reprografischer Nachdruck aus dem Nachlass von 1859; Darmstadt 1990, S. 132). Schelling will hier das Absolute als Unendliches in einer „reinen“ Form denken. Diese absolute Form muss wesenhaft unendlich sein und bleiben, auch wenn sie in die endliche, feste Materie eingebildet ist: „…Diese (Form, CJG) ist nur im Klang, denn dieser ist einerseits lebendig -für sich-, andererseits eine bloße Dimension in der Zeit, nicht aber im Raume…“ (Ebd.).

Haben wir mit „Metastasis“ den akustischen Beweis für Schellings Kunstmetaphysik? Ist hier nicht ein Beleg für die Richtigkeit der Schellingschen Auffassung von Kunst als Teilhabe am Unendlichen mit dem Mittel der Schönheit und haben wir hier nicht ebenfalls einen Hinweis darauf, dass sich die Künste nicht voneinander trennen lassen, denn die „Metastasis“ wurden bekanntlich gebaut, sind also zu Architektur geworden?

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt