Die ungehorsame Schwester …

By cjg on 1. März 2016 — 1 min read

G: Eine entscheidende Überkreuzung von Architektur und Poesie zeigt sich in der menschlichen Wahrnehmung. Steht sie allein im Zentrum des Denkens, ist sie nämlich geeignet, die traditonsbeladene Wahrheit zu verdrängen. Sie steht damit auch als Wegmarke und beschreibt einen Ausweg aus den Doktrinen eines rationalitätsfixierten Akademismus.

G: Nicht der beliebig reproduzier-, teil- oder mathematisierbare Begriff, der sich zur Universalität aufschwingt, gliedert den Zugang von Mensch und Welt, sondern ein höchst dynamisches, strengstens augenblickliches Geflecht. Eines, das nicht weniger absoluten Charakter hat, jedoch eine weitaus höhere Bandbreite offen hält, als es die freiwillige Selbstbeschränkung der Vernunft zu leisten in der Lage wäre.

MP: „…Das Ding stellt sich nicht schlechthin als wahr für jedes erkennende Wesen dar, sondern als wirklich für jedes Subjekt, das meine Wahrnehmungssituation teilt…“ (36)

G: Wahrnehmung tritt an die Stelle von Wahrheit.

G: Wirklichkeit tritt an die Stelle von Gesetz.

G: Begriffe müssen kapitulieren vor der Wahrnehmung, denn sie reichen nicht hin zu deren unmittelbarem Charakter.

G: Wie ist es mit der Poesie? Sie sah sich oft mit dem polemischen Postulat des bloßen Irrationalismus konfrontiert, denn Sie bedient sich bestenfalls begrifflicher Hülsen und nicht der Begriffe selbst. Insofern war sie schon immer die ungehorsame Schwester der Vernunft und sie war dabei ihre bessere Hälfte.

N: „…Die Poesie löst fremdes Dasein im Eigenen auf…“ (325)

G: Die Poesie hilf, Begriffe kollabieren zu lassen. Sie wirkt wie die Hitze, die dem Wasser ermöglicht, sich in Dampf zu transformieren. So wie das Wasser, nimmt der Begriff eine andere Form an. Er öffnet sich, in dem er ins dynamische, strengstens augenblickliche Geflecht einer neuen Wahrnehmbarkeit zurückkehrt.

MP: „…So wie die Wahrnehmung eines Dinges mich dem Seienden gegenüber öffnet, in dem sie die paradoxe Synthese einer Unendlichkeit von wahrnehmbaren Aspekten verwirklicht…“ (52)

G: Wie wäre es, die Wahrnehmung als menschliche Befähigung ernstzunehmen, vorreflexiv und damit wirk-lich selbst an der Welt Teil zu haben? Wie wäre es, den damit einhergehenden, multiperspektivischen Zustand zum Ausgangspunkt einer Architektur zu machen? Wie wäre es, die Suche nach Logik, Ordnung und Geschichte zu unterlassen? Wie wäre es, Architektur zu machen, die die Wahrnehmenden in ihrem poetischen Potential hält?

(N: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrichs von Hardenberg, Band 2, Darmstadt 1978)
(MP: Maurice Merleau-Ponty: Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt am Main 2003)

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt