Eine kleine Frühstücksgeschichte …

By cjg on 2. April 2016 — 5 mins read

Irgendetwas war heute Morgen anders – wohl nicht das trübe Wetter mit dem mangelnden Licht. Es lag eher in ihr, in ihrer Weise, wahrzunehmen. Eine gewisse Kraft schien sie heute daran hindern zu wollen, über sich hinaus zu denken oder zu empfinden. Etwas forderte die ganze Aufmerksamkeit. Nicht etwa, dass es schwer gewesen wäre, den Arm zu heben oder zu sitzen. Auch zu blicken, aus dem Fenster zu schauen, den Baum im Hof zu beobachten, war nicht schwerer als sonst.

Nein, es zeigte sich anders. Zum Beispiel in der Weise, wie sie ihr Müsli aß. Sie schien sich zu keiner Zeit erinnern zu können, was unmittelbar zuvor geschehen war. In dem Moment, in dem sie den Löffel im Mund spürte, hatte sie z.B. schon vergessen, wie ihre Lippen ihn zuvor umschlossen hatten. Ja, sie wusste noch nicht einmal mit Sicherheit, was Mund oder Löffel bedeuten. Alles schien so, als sei es in jeder Sekunde neu. Vollkommen neu!

Auf dem Stuhl sitzend, dessen Beine den Boden heute nur zaghaft berührten, schien sie in einer totalen, wenn auch radikal fokussierten, Gegenwart zu leben. Ihre nackten Füße steckten in den Hausschuhen. Der Hosensaum umspielte ihre Knöchel und gab dem Textil den Abschluss nach unten. Ganz so, wie es seine Aufgabe war. Irgendwie fiel es ihr schwer, sich auch den Rest von sich vorzustellen. Eine gewisse Spannung auf der Haut ließ sich noch ausmachen um die Kniescheiben herum und auch ein Gefühl der Umschlossenheit war noch gegenwärtig, das der Hosenbund ihrer Taille signalisierte. Aber, so sehr sie sich auch mühte, mehr Wahrnehmung wollte von ihrem Körper nicht gelingen – sie schien im Moment nur aus ihren Beinen zu bestehen.

„Ich kann mich nicht mehr bewegen, bin ich nun ein Ding?“, dachte sie – „ nicht mehr als ein Apfel, ein Tisch, ein Stuhl?“

„Kann ein Ding Bezüge zum Raum herstellen ohne das Gefühl für die Zeit? Ist die Zeit denn überhaupt ein Gefühl?“

„Wieso aber kann ich mich erinnern an das, was es bedeuten könnte, ein Müsli zu essen? Wie kann meine Gegenwart erscheinen, ohne dass es diese Erinnerung gäbe?“

Die trübe Kraft, die sie gefangen hielt, nahm zu. Sie zog ihr immer wieder die Gedanken fort. Fort in sie, in etwas in ihr, das sie nicht näher fassen konnte, denn als Abgrund. Das Schauen in diesen Abgrund schien sie dazu zu zwingen, nicht zu denken, nicht zu tun, nicht zu handeln – und also einfach nur dort zu sitzen. Still und regungslos. Auch in ihrem Denken zu verharren. Quasi ohne Denken, nur dort zu sitzen. Es war eine unbändige Kraft, die sie auf diese Weise in sich zurückzog an diesem Morgen.

Immerhin dachte sie noch. Oder vielmehr dachte sie, dass sie noch dachte. Wie kann das Denken ohne die Zeit geschehen – im totalen Stillstand? Denn ihr Stillstand schien nicht die Abwesenheit vom Denken zu markieren. Er war eher ein anderer Zustand desselben. Vielleicht die andere Seite derselben Medaille?

„Wenn ich denke, bin ich noch lebendig“, das sagte sie sich. „Noch nicht hinein gesogen in das Nicht-tun, noch gezwungen, zu handeln“.

Als sie etwa 30 Minuten regungslos gesessen hatte, bekam sie langsam wieder Kontakt mit dem Außen. Ganz froh darüber tat sie nun alles, um sich wieder in die Zeitlichkeit zu katapultieren, aus der sie vorübergehend herausgefallen war.

Zuvor -in ihrem Denken- hatte sie sich in einen Zustand gebracht, der viel mehr war, als ihre körperliche Existenz. Aber eben auch nicht das Gegenteil, sondern eine aufgeweitete Form. Sie hatte sich in einen Zustand gebracht, in dem sie in gewisser Weise verlassen war. Nicht nur verlassen von anderen, sondern von den Dingen und der Welt selbst. Letztlich auch in einen Zustand, in dem sie sich selbst als Mensch verlassen konnte.

In was hatte sie sich da aber verloren? Oder aus was hatte sie es geschafft, sich zu lösen? Nun schien es ihr so, als habe sie sich auf Null zurückgestellt. Als habe sie den Anfang erreicht. Als würde der Anfang immerfort zu ihr gehören. Der reine Anfang ohne seine Falschheiten, seine blassen Abbilder Vergangenheit und Zukunft. In diesem Anfang war stets alles neu. Es gab in ihm gar keine andere Möglichkeit, als ständig neu bzw. anders zu sein. Es gab keinen Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Möglichkeit war permanent präsent.

Die Gegenwart lässt sich nicht bemessen. Es fehlen hier notwendig die Maßstäbe. Das merkte sie deutlich, als sie versuchte, sich über das Erlebte klar werden, darüber zu sprechen. Es fehlen die erstarrten und geronnenen Wirklichkeiten, die gemeinhin aus Zukunft und Vergangenheit geformt werden. Das Sprechen markiert zwar auch eine Gegenwart, aber eine ängstliche, verhaltene, in gewisser Weise unangemessene. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb sie nun begann, der sprachlosen, totalen Gegenwart nachzutrauern.

Sie merkte nun, wie sie vollends herausrutschte aus dem Anfang. Die Techniken der Erstarrung holten sie schnell ein. Nun konnte sie sich wieder bewusst werden, dass sie aß, spürte die mittlerweile warm gewordene Milch an ihren Daumen und den süßlichen Geschmack des Obstes, das sie zusammen mit den Haferflocken in ihren Mund zu einem Brei zermahlte. Nun fühlte sie auch wieder ihren Körper in Gänze, wie er auf dem Stuhl saß und war eingewoben in das äußere Geflecht aus Klang, Licht, Raum und Zeit.

B: „…Mir schien diese Selbsttäuschung, einen unerklärlichen Akt betreffend, aus mir selbst hinausgefahren zu sein. Ich hatte auf einmal zwei Gesichter, eines neben das andere geklebt. Unaufhörlich berührte ich zwei Ufer. Mit einer Hand zeigte ich, dass ich da war, mit der anderen, was sage ich!, ohne die andere, und mit diesem Körper, der über meinem wirklichen Körper lagerte und ausschließlich zu einer Negation des Körpers gehörte, übte ich denn unbedingtesten, grundsätzlichsten Zweifel an mir selbst…“

H: „…Das Jetzt, wie es uns gezeigt wird, ist ein gewesenes, und dies ist seine Wahrheit; es hat nicht die Wahrheit des Seins. Es ist also doch dies wahr, daß es gewesen ist. Aber was gewesen ist, ist in der Tat kein Wesen; es ist nicht, und um das Sein war es zu tun…“

B: Maurice Blanchot: Thomas der Dunkle; Frankfurt am Main 1987; S. 92
H: G.W.F. Hegel: Phämomenologie des Geistes; Werke Band 3; Frankfurt am Main 1986; S. 88

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt