Eine kleine Soggeschichte …

By cjg on 1. April 2016 — 4 mins read

Der Tag begann gut. Alles war entspannt. Gestern waren sie erst am späten Abend im Hotel angekommen. Über Internet gebucht mit ein bisschen Nervosität, weil sie gedacht hatten, die Katze im Sack zu kaufen. Aber nun war alles gut. Sogar das Frühstück – und er hatte schon genügend schlechte Frühstücke gegessen auf seinen Geschäftsreisen. Dieses Mal war er mit seiner Familie unterwegs! Endlich mal in Berlin, in die Stadt, von der alle so viel reden.

Sie hatte richtig gezählt. Bei der dritten Station mussten sie raus. Die S-Bahn war ganz schön voll, aber das hielten sie für normal. Schließlich waren sie in einer Großstadt. Hier müssen viele Menschen in viele Richtungen – und das schnell! Der Bahnsteig war nicht eben einladend. Grau, kalt und nass. Der Boden leicht glitschig vom vielen zertretenden Schnee.

Der Kleine sollte in den Wagen, darauf bestand sie mit dem Hinweis, dass das sicherer sei bei den vielen Menschen. Von einigen gereizten Bemerkungen der sich staunenden Passanten begleitet gelang es schließlich, den Plan umzusetzen. Unmittelbar vor ihnen tat sich bald ein rechteckiges Loch auf, in dem die anderen Fahrgäste nach unten verschwanden. Es rahmte eine Treppe, deren Stufen wie die glatt geschliffenen Zähne einer Säge wirkten. Ein wenig erinnerte das auch an einen Abfluss. Sogar ein gewisser Sog war zu spüren.

Es würde das Beste sein, sich an die Geschwindigkeit anzupassen, dachte er. Etwa einen Meter vor der ersten Stufe nahm er wie immer die linke Hand an den Griff und die rechte an den Frontbügel des Kinderwagens. Mit einem Ruck, der nicht etwa sonderlich stark gewesen war, hob er den Wagen etwa 30 cm an. Schon fast elegant wirkte es, wie der Kleine drei Stufen später in der Laufrichtung aus dem Wagen katapultiert wurde.

Offensichtlich hatte der Frontbügel den Geist aufgegeben. Jedenfalls dachte er das, als er ihn zunächst durch die Luft fliegen und dann die Treppe herunterkullern sah. Nur das beginnende Kreischen des Kleinen unterbrach die Ästhetik dieses rhythmischen Stürzens. Eine solche jedenfalls musste der Situation innegewohnt haben. Wie sonst wären die faszinierten Blicke der Passanten und Fahrgäste zu erklären?

Eine Asiatin lies ihren Instinkten freien Lauf und stoppte den weiteren Fall mit dem rechten Schienbein, um das schreiende Bündel am linken Fußgelenk anzuheben und ihm zuzureichen. In Windeseile übergab er ihn an sie. Sie hatte die ganze Zeit am oberen Treppenabsatz gestanden. Der Un-Fall war nun wieder Fall – so hoffe er.

Das Schreien des Kleinen immer lauter wurde. Auch veränderte sich sein Gesicht. Es schien anzuschwellen und auch, rot zu werden. Eigentlich war es eher ein Rotbraun, das teilweise in ein sattes Schwarz abglitt. Auch verzerrte sich sein ganzer Kopf. Er begann, Blasen zu bilden, die in Sekundenschnelle von der Größe einer Walnuss in die Dimension einer Melone aufwuchsen, nur um danach wieder gänzlich zu verschwinden.

Es musste ein erstaunliches Bild gewesen sein, als der Mund immer größer wurde, bis das ganze Gesicht nur noch aus einem aufgerissenen Schlund zu bestehen schien, aus dessen Richtung infernalischer Lärm drang.

Nur der entweichende Atem sorgte dafür, dass der mittlerweile literweise fließende Speichel ihn nicht zum Ersticken brachte. Vielmehr spie er denselben hoch in die Luft. Dieser übelriechenden Fontäne konnte sich keiner entziehen. Die Fahrgäste krümmten sich mittlerweile vor Schmerz. Der Lärm war ohrenbetäubend geworden und nun rutschten sie auch noch beim Fluchtversuch auf dem Speichel aus, der in Rinnsalen über den Bahnsteig floss.

Der ehemalige Kleine schien zum Luftholen anzusetzen, jedenfalls war es für einige Sekunden, die wie eine Ewigkeit wirkten, ruhig. Der Sog war zunächst mäßig, er ließ den Leuten nur ein wenig die Hosenbeine flattern. Er wusste später nicht mehr genau, wann die ersten Gegenstände wie Hüte, Mützen oder Umhängetasche begonnen hatten, sich zu verselbstständigen. Das erste lebendige Opfer war ein Hund, der samt Leine in den Schlund gezogen wurde. Bald begannen sich auch die Bodenbeläge, das Wärterhäuschen und ein Treppengeländer zu lösen. An ihm hatten sich einige Fahrgäste verzweifelt festgehalten. Auch für sie gab es keine Rettung.

Wenig später waren 85 Menschen, Teile des Bahnsteiges und etwa ein Drittel des S-Bahn-Zuges eingesaugt. Ihm selbst allerdings passierte nichts. Auch ihr nicht. Sie hielt den ehemaligen Kleinen immer noch fest. Zwischendurch hatte er sich gefragt, wie sie es schaffte, ihn zu bändigen. Woher nahm sie nur die Kraft? Sie stand einfach nur da und über ihr steckte der halbe Bahnhof in einem Nurkopf von der Größe eines Kleintransporters. Sie erschien ihm wie eine ägyptische Priesterin, die eine Sonnenscheibe hält. Das hatte ihm besonders gut gefallen neulich im Museum. Er war stolz auf sie und ein bisschen machte es ihn auch an, wie sie so dastand.

Offenbar hatte er Probleme mit dem S-Bahn-Zug. Der jedenfalls verschwand nicht tiefer in ihm. Auch vehementes Schlucken führte zu keinem Erfolg. Der Schlund zog sich immer enger um den Waggon herum, bevor er endgültig erschlaffte. Sein Ende war gekommen. In großen Mengen rann nun der Speichel und bedecke sie vollkommen.

Beide sprachen während des Rückwegs zum Hotel nicht. Ab und an ernteten sie wegen ihres Äußeren verwunderte Blicke. Im Aufzug beschlossen sie, dass sie sich nicht beirren lassen würden und das Beste aus der Situation machen wollten – schließlich hatte man Urlaub und sowieso zu wenig Zeit für sich.

Dies ist eine wahre Geschichte. Ein enger Freud von ihm hat sie dem Autoren zu Protokoll gegeben. Der Vorfall ereignete sich im Jahre 2008. Die Zerstörungen am Berliner Bahnhof Zoo wurden binnen kürzester Zeit behoben. Die Medien bewahrten auf Wunsch der örtlichen Autoritäten Stillschweigen. Der ehemalige Kleine wurde dem Bundesnachrichtendienst übergeben. Er und sie leben heute in Rheinland-Pfalz. Sie haben keine weiteren Kinder.

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt