Gegenwarten und Täuschlichkeiten …

By cjg on 11. Februar 2016 — 2 mins read

Ist es nicht ganz erstaunlich, dass Gegenwart ein ständiger Verfallsprozess zu sein scheint? Der Moment der ersten Wahrnehmung gleicht nicht dem der zweiten oder der dritten usw. Der Verfall steckt im Wandel. Gegenwart ist Wandel – permanent.

…Das Unmittelbare ist in ständigem Fluss begriffen. (Es hat tatsächlich die Form des Stroms)…“ (Ludwig Wittgenstein: Wiener Ausgabe. Studientexte Band 1-5; Zweitausendeins-Ausgabe; Frankfurt am Main 1994, S. 92)

Wozu brauchen wir die Zukunft, wenn die Gegenwart nichts Bleibendes hat? Führt die Zukunft nicht geradewegs hinein in die körperlosen Gedankenwelten? Körperlos, weil erfahrungslos, denn Erfahrung lässt sich nur leiblich und gegenwärtig machen. Muss nicht jede Zukunft deshalb eine Täuschung sein, weil sie nie gegenwärtig ist? Beschreibt die Zukunft eine Möglichkeit oder nur die Möglichkeit zur Möglichkeit? Ist die Täuschung der Fluch der Möglichkeit, ihr dunkler Bruder?

„…Wo Täuschung möglich ist, dort ist auch Sehen der Wahrheit möglich / muss auch Sehen der Wahrheit möglich sein…“ (Ebd., S. 103)

Wenn Gegenwart Wandel bedeutet, ist die Möglichkeit daran gekoppelt. Möglichkeit braucht keine Zukunft, denn sie ist gegenwärtig und sie ist dem Verfall anheimgegeben. Entartet die Möglichkeit, wenn sie zur Zukunftstäuschung wird? Wird sie toxisch durch ihre Virtualität? Müsste man die Möglichkeit hier nicht anders nennen? Einem Schattenriss gleicht sie dann nämlich, sie wird eine Täusch-lichkeit; ein bloßes Abbild ihrer selbst. Doppeltes Höhlengleichniß, die Gefesselten sehen die Schatten auf der Wand und bei geschlossenen Augen blicken sie in ihre Täusch-lichkeiten.

Täuschung hat etwas zu tun mit Tauschen. Ist der Tausch nicht dem Wandel ähnlich? Ist es die Absicht, die den Wandel negativ auflädt? Wandel in Wahrnehmung passiert AN mir. Täuschung passiert VON mir. Man sollte hier gründlich unterscheiden.

Wie will man etwas zu fassen kriegen, das sich permanent wandelt, das permanent verfällt? Was für eine enorme Kunst ist es doch, zu sprechen. Muss eine Sprache, die dieses Fassen besorgen soll, denn nicht genauso verfallen, wie die Gegenwart? Darf der Redestrom denn überhaupt je abbrechen oder ist das Schweigen genau deshalb geboten?

„…Alles Wesentliche ist, dass die Zeichen sich in wie immer komplizierter Weise am Schluss doch auf die unmittelbare Erfahrung beziehen und nicht auf ein Mittelglied (ein Ding an sich)…“ (Ebd.)

Ein schönes Fundstück von heute über eine Retrospektive von Jenny Holzer in der Schweizer ‘Fondation Beyeler’ aus der NZZ: “…Es ist der verwehende Klang, der sie interessiert, es sind die Tiefen und Untiefen, die sich hinter den Worten und Sätzen auftun, die Widersprüche, die sich nicht fügen zum konzisen Argument. Das ist das Vorrecht der Kunst. Kunst ist ein Sammelbecken, wo alles gefährlich und wunderbar zusammenfliesst, was die Disziplinen des Denkens und Fühlens für gewöhnlich auseinanderhalten…”

Denken sollte öffnen und nicht schließen. Texte sollten einem hochbewegten Gewebe gleichen und keiner massiven Pyramide. Erklimmen kann man die Sprache nicht, man kann sich ihrem Ozean nur aussetzen und versuchen, einen sicheren Stand zu finden auf dem Surfbrett, das ‚Worte‘ genannt wird. Mehr bleibt einem bei ernster Betrachtung nicht…

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt