Im Sog des Nicht …

By cjg on 5. Februar 2016 — 2 mins read

Es rauscht der Wasserfall
hier seit langem nicht mehr
Doch sein hoher Ruhm
ist bis heute nicht versiegt
er klingt fort bis in die Ewigkeit
(Dainagon Kinto)

Dieses japanische Gedicht ‚sagt‘ etwas Wesentliches; etwas über das Wesen der Dinge, indem es Begriffe dazu nutzt, ein Wirkungsgefüge zu ermöglichen. Es versucht nicht, die Begriffe selbst zum Träger des Sagens zu machen! Es spricht das, was sich zwischen den Worten abspielt. Etwas, das Dazwischen liegt, steht, wirkt und weilt. Es ist anwesend, ohne direkt angesprochen zu werden. Es ‚ist‘ im Übergang zu etwas anderem.

Dieses Andere ist kein Fremdes. Es gehört zum Daseinenden dazu, ist ohne es nicht möglich. Es ‚ist‘ etwas da, ist vorhanden, obwohl es mit Augen und Ohren nicht zu fassen ist. Trotzdem ist es leiblich. Ist es Teil menschlicher Lebenspraxis, ist präsent in der Welt – zusammen mit uns. Es ist dabei weit mehr, als bloße Erinnerung.

Es ist Nichts und dennoch etwas – ein Paradox. Ein heilsames Paradox! Heilsam ist es deshalb, weil es die Grenzen und Unzulänglichkeiten aufzeigt, mit denen wir leben. Unser kultureller Angang an die Welt sagt uns, dass ‚es‘ definitiv nicht da ist und Bedeutung nur erfährt im subjektiven Reich der Einbildung. Rationalität und Logik zeigen ihre Leerstellen auf und die herkömmliche Sprache kollabiert. Üblicherweise flüchtet man sich in so einem Fall entweder in eine übersinnliche Welt, psychologisiert oder verweist auf die Kunst. Den Künstlern wird noch am ehesten zugebilligt, die Leere und das Zwischen zu Leitthema zu machen.

Zurück zum Gedicht. Ein Ort wird beschrieben. Ein Ort, der von ‚Etwas‘ zeugt, der Zeuge ist und uns zum Zeugen macht. Ein Ort, der zeugt, der führt und überführt. Ein Ort, der öffnet. Das Öffnen führt ins Nicht des augen- und ohrenscheinlich Vorhandenen. Dieses Nicht ist nicht Nichts, sondern ein erfüllendes Etwas. Ein Erfüllendes und Dauerndes. Ein wirkungsmächtiges Dauern, das uns in sich einträgt, das sich uns zeigt, indem es sich zeugt.

Genius loci als sich zeigendes Nicht, als anwesende Abwesenheit, als andauernder Sog. Nehmen wir ihn als etwas, das fragwürdig ist. Als etwas, das man nicht zu kennen glaubt. Als etwas, das ein Fragen provoziert. Nehmen wir ihn als räumliche, zeitliche und leibliche Stimulans, die ein präsentes ‚Verhalten zu‘ erfordert.

Die Präsenz eines Genius loci sollte man dann nicht nur als Ort begreifen, sondern auch als ortend. Das Ortende kennzeichnet sich durch seine Abwesenheit und das Verwundern darüber ist die zutiefst schöpferische Reaktion darauf. Das Verwundern ist ein Suchen, eine Bewegung. Der Genius loci gleicht dann einer dauernden und nicht zu beantworteten Frage. Er verweist den Fragenden auch in eine körperliche Reaktion und schafft den Sprung vom Gedanken zum Leib. Verwunderung liegt nah bei Verwundung…

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt