Kleine Adventgeschichte …

By cjg on 9. Februar 2016 — 5 mins read

“…Es könnte nichts merkwürdiger sein, als einen Menschen bei irgend einer ganz einfachen alltäglichen Tätigkeit, wenn er sich unbeobachtet glaubt, zu sehen (…) wenn wir quasi ein Kapitel einer Biographie mit eigenen Augen sehen, – das müsste unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgendetwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte. Wir würden das Leben selbst sehen…“ (Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe; Frankfurt am Main 1984-1989; Band 8; S. 455)

Gut! Der Bahnsteig ist wenigstens warm – einigermaßen jedenfalls. Genügend allemal, um den blutleeren, weißen Finger langsam wieder zur Hautfarbe zu verhelfen. Die üblichen, um Distanz bemühten Gesichter. Die üblichen Gerüche aus kalt gewordenem Zigaretten-Atem, Maschinendunst und muffigen Winterklamotten. Ab und zu ein Hauch von Aftershave oder Parfüm. Auch die übliche Soundmischung erzeugt von MP3-Player-Träger, die sich gerade ihr Gehör ruinieren, sonorem Stimmengewirr, Wortfetzen und kreischendem Teenagerkichern.

Kreuzberg ist ‚In‘ und weil alles so ‚In‘ ist, sind es auch dessen Bewohner und ist es auch deren Streetwear. Wenn man alle Farben und Style mischt, kommt Kackbraun dabei heraus, scheint es. Mag sein, dass der Eindruck noch verstärkt wird an diesem dunklen, nassen, grauen und kalten Tag. Einige Touries sind zu sehen. Unterscheiden sich, sind wie Farbtupfer mit dem Duft ihrer frisch gewaschenen Kleidung, den neugierigen und weit geöffneten Augen, den leicht geröteten und meist breiten Gesichtern, die von Wohlstand und geordneten Verhältnissen zeugen. Sie verbreiten auch andere Sounds mit ihren Sprachen, heute mal niederländisch und spanisch.

Ein Alkoholisierter im Wagon. Noch ist nur wirres Gefasel zu vernehmen. Fleckentarnstyle vom Scheitel bis zur Sohle. Gutmütiges, rundes Gesicht. Stoppelhaarschnitt und große braune Augen. Leicht untersetzt. Auf den Schienbeinen, die sich zwischen dem hochgerutschten Hosensaum und den Springerstiefeln zeigen, kleine konzentrische Wunden, mindestens fünf von verschiedener Größe und unterschiedlich rot.

Im lallenden Gespräch mit einem jungen Mann, schräg gegenüber von ihm. Zwischen den beiden der Gang und ein anderer junger Mann, der krampfhaft versucht, den Blick in sein Buch gerichtet zu halten. Leicht roter Kopf dabei und scheinbar nur ein Gedanke: „sprich mich bloß nicht an“. Seltsam, dieser um sein Verschwinden bemühte Lesende fällt durch eine Geste, die sonst der Abschottungsgarant Nummer Eins ist, umso deutlicher auf. Soziale Intelligenz würde man es wohl nennen, das Buch jetzt herunterzunehmen.

Auf gewisse Art und Weise wirkt der Besoffene harmlos. Nicht so aggressiv und aufdringlich wie andere. Beschäftigt zwar mit Schwadronieren, aber wenigstens in einer enormen thematischen Bandbreite. Interessant, wie problemlos er seine Meinungsfetzen aneinanderreiht. Ein außerordentliches Beispiel dafür, wie wir Westeuropäer durchs Leben gehen. Der Meinungshaber unterscheidet sich ganz offensichtlich nur durch sein Besoffensein von den meisten anderen im Wagon. Naiv und angstfrei breitet er den ganz normalen ‚Welt im Kopf-Wahnsinn‘ aus und gibt permanent der Hegelschen Theorie einer ‚geistlosen Freiheit des Meinens‘ Bestätigung.

Plötzlich, bei den Ausführungen über einen Discounter, der den günstigsten Wodka anbietet, der Griff in die Jackentasche. Irgendetwas wird zum Mund geführt. Dann ein Geräusch, das entsteht, wenn man Spray benutzt.

Eine Frau fragt in Richtung ihrer Begleiter:

„Was war das denn?“
„Der hat sich Gas reingezogen.“
„Gas? Das gibt’s doch gar nich?“
„Wenn ich´s doch sage, wie beim Feuerzeug!“

Ungläubiges Staunen und zumeist Grinsen auf den Gesichtern der anderen Fahrgäste. Etwas völlig Unerwartetes war passiert. Ein Mann hält sich für ein Feuerzeug! Durch die bloße Neukombination von Gegebenemwird die Unmöglichkeit zur Möglichkeit und wiederum zur Wirklichkeit. Das Ganze passiert verzugslos in Echtzeit. Erklärungen sind überflüssig. Sie geschehen nur retrospektiv, quasi als Art Vergangenheitsbewältigung. Das Lachen ist dabei allem voraus. Es ist vor
der Sprache da. Es ist die klangliche Wegweisung ins Neue. Es ist der Sound, der beim Beschreiben der humanoiden Reflexionsmatrix entsteht.

Der Besoffene hat nun viel Platz. Er sitzt allein in einer Vierer-Nische und redet weiter. Es geht um die Vorzüge des Gaskonsums. Er mischt sich eine Erfrischung. Der anfangs erwähnte, unfreiwillige Gesprächspartner hilft dabei. Er hält ein glattgeschliffenes, tulpenkopfförmiges Trinkglas. Es fasst ca. 0,3 Liter. Einen Daumen breit unter der Hälfte hört der Schapsguss auf. Der Rest des Glases wird mit Orangensaft gefüllt. Danach kommen alle Flaschen zurück in den fleckengetarnten Rucksack.

Das Grinsen will nun nicht mehr weichen aus den Gesichtern der anderen Fahrgäste. Es geht immer öfter über in ein stilles Lachen. Der Besoffene macht den U Bahn Wagon zu seinem Wohnzimmer. Er sitzt entspannt mit überschlagenen Beinen, trinkt seine Erfrischung und ist damit beschäftigt, zu meinen. Eine Szene, die millionen Mal passiert. Nur nicht in der U-Bahn. Irgendwann beginnt er zu singen: „Wenn ich einmal traurig bin, dann trink ich einen Korn“. Er wiederholt das
permanent. Jemand fragt, was er trinkt, wenn er fröhlich ist. „Einen Apfelkorn“. Dann singt er weiter.

Was zeigt uns dieser Besoffene? Er redet an Orten, an denen andere schweigen. Er säuft öffentlich und nicht heimlich; er verwendet ein vornehmes Glas dabei. Er hält sich für ein Feuerzeug. Er füllt sich mit Gas ab. Er schwadroniert und braucht dazu keinen Gesprächskreis oder Stammtisch. Vielleicht hält ein solcher Mensch einem selbst den Spiegel vor, lässt die allgegenwärtigen ‚Mans‘ deutlich werden. ‚Man‘ macht Dieses oder Jenes doch einfach nicht, oder?

Er bringt die Menschen offensichtlich zum Lachen. Ein Lachen, das aber nicht nur mit Überhebung zu tun hat, scheint es. Ein Lachen eher, das milde gestimmt ist. Irgendwie sogar eine Spur verständnisvoll, auf jeden Falls nicht ängstlich oder aggressiv. Vielleicht haben die Leute ein Stück ihrer selbst gesehen in diesem U Bahn Wagon. Die Distanz untereinander haben sie in jedem Fall verloren. Sie blickten sich an und lächelten. Ganz anders, als noch am Mehringdamm auf dem Bahnsteig. Dostojewski kommt mir in den Sinn. Die Idioten, Gefangenen, Mörder,
Strauchelnden und Geächteten sind die Symbole des Guten bei ihm…

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt