Meeses Romanto-Radikalismus …

By cjg on 3. Januar 2016 — 1 min read

Ein sehenswertes Video mit Auszügen des Auftrittes von Jonathan Meese im Berliner Renaissance Theater ist zu finden beim „Berliner Kunstkontakter“.

Die „mickrige heutige Menschenmacht“ soll ersetzt werden durch die „Diktatyr der Kunst“. Wohlgemerkt der Kunst und nicht der Künstler, denn eine Sache soll die Macht übernehmen. Die Menschen sind „Realitätsfanatiker und Selbstverwirklichungsfanatisten – Kleinstdiktatoren an jeder Ecke“.

Das ICH / die Individualität eines einzelnen Menschen führt zu „Geschmacks- und Meinungsfanatismus“. Die permanente Nabelschau kreiert eine „mickrige miese Realität“ und ist verantwortlich für die „lauwarme Zeit seit 1945“. Rituale kommen „kultivierten Toden“ gleich und das einzige Menschenrecht ist das auf Radikalität.

Es ist schon erstaunlich, was beim Zusehen passiert. Ist da ein Verrückter auf der Bühne? Kann das sein? Da sitzt Publikum, wird eine Laudatio gehalten … Die Symbolik und die Kontexte lassen der Regung letztendlich keinen Raum, das Video abzuschalten. Irgendeine Art von intellektueller Erregung, die dann auch körperlich wird, scheint hier vorzuherrschen. Ist das die vielbeschworene Dynamik der Kunst, die doch so wortreich zu Grabe getragen wurde in den letzten Jahrzehnten? Kann Kunst die Menschen doch noch ändern?

Es ist schon was dran an den Thesen von Meese. Wenn er die „Ameise der Kunst“ sein will und die Herrschaft einer Sache fordert, ist ein romantischer Impuls am Werk. Hier findet eine Einforderung statt, nämlich die nach einem Ausweg aus dem utilitaristischen Mainstream der Gegenwart. Die mit Individualismusrhetorik gewürzte, allgegenwärtige Konsumwelt fördert tatsächlich eine „lauwarme Zeit“ des “Anything Goes” zutage und der Gedanke, dass die Seele „schon vor Jahrtausenden“ ausgelagert worden sei, zeugt von der Fähigkeit zu einem klaren Blick auf die abendländischen Dualismen.

Romantik ist eben nicht (nur) ein zärtliches Sehnen, sondern auch ein radikales Rütteln. Aber das kann Rüdiger Safranski viel besser ausdrücken als ich: „…Der romantische Geist ist vielgestaltig, musikalisch, versuchend und versucherisch, er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen, die Extreme, das Unbewusste, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion…“ (Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre; München 2007)

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt