Waltz-Praxis …

By cjg on 16. Januar 2016 — 2 mins read

Ein faszinierendes Lehrstück und eine ermutigende Erfahrung im Spannungsfeld zwischen Raum, Klang und Tanz könnte man kürzlich in Berlin genießen. Sascha Waltz choreografierte „Dialoge 2009“ und setzte sich auseinander mit dem durch David Chipperfield GROSSARTIG wiederhergestellten „Neuen Museum“ in Berlin.

Zweieinhalb Stunden hatte der geneigte Besucher Zeit, um 25 (!) Tanzstücke auf vier Etagen zu sehen. Die zahlreichen Gäste waren vor die gleichen Fragen gestellt und mussten sich entscheiden, ob sie einige Stücke ganz sehen wollten oder alle ein wenig. Ein ständiges Bewegen der Massen mit etlichen genussschmälernden Kollateralschäden war die Folge und beim „x-ten“ gegenseitigen Anrempeln, den Weg versperren, die Sicht nehmen und im Menschenstau stecken, wurde die eigene Geduld so manches Mal gefordert. Aber das war auch schon das einzig Negative an dem Abend!

Wie ein Befreiungsschlag aus dem Dickicht der Rekonstuktionsdebatten wirkt der neue-alte Bau, denn er wird dem Thema Museum wesensgemäß gerecht. Er IST nämlich Ge-Schichte, und als Schicht um Schicht wahrnehmbar. Wie eine dreidimensionale archäologische Ausgrabungsstätte sind in Ihm Vergangenheit und Gegenwart baulich vereint und bilden ein atmosphärisches Kontinuum höchster Güte. Durch das Darstellen von Fragmenten des Vergangenen auf einer modernen Archi-Textur wird die Geschichte in ihr Wirken freigegeben. Dabei wirkt sie nicht nur herkömmlich durch das Exponat, sondern auf den Raum als Ganzes. Die Zeit als die Bedingung von Geschichte gewinnt durch das augenscheinlich Verlorene ihre Authentizität. Wenn es einen musealen Sinn gibt, dann doch wohl diesen.

Die grandiose Leistung von Sascha Waltz war es nun, das atmosphärische Kontinuum der einzelnen Räume zu übersetzten und den Tanz als Fortsetzung der Architektur mit anderen Mitteln anzuwenden. In einem Interview sagt die Choreografin: „…Die Räume haben eine sehr unterschiedliche Aura und ich habe – ähnlich wie Chipperfield – für jeden ein eigenes Konzept entwickelt…”. Hier gibt es nichts hinzuzufügen, denn die Umsetzung ist gelungen. Bewegte Friese, zwei Priesterinnen in Ritualen verstrickt, behutsames Tasten und Erforschen im Zeitlupentempo, klaustrophobische Ängste, bürgerlich verbrämte Balzrituale in historischen Ballkleidern, lasziver Lebenswille etc. verfehlten ihre Wirkungen nicht.

Man könnte meinen, dass Sascha Waltz Nietzsche beim Wort genommen hätte: „…Was früher in poetisch-musikalischen Innungen kastenmäßig fortgepflanzt und zugleich von aller profanen Betheiligung entfernt gehalten wurde, was mit der Gewalt des apollinischen Genius auf der Stufe einer einfachen Architektonik verharren mußte, das musikalische Element, das warf hier alle Schranken von sich: die früher nur im einfachsten Zickzack sich bewegende Rhythmik löste ihre Glieder zum bacchantischen Tanz: der Ton erklang, nicht mehr wie früher in gespensterhafter Verdünnung, sondern in der tausendfachen Steigerung der Masse und in der Begleitung tieftönender Blasinstrumente. Und das Geheimnißvollste geschah: die Harmonie kam hier zur Welt, die in ihrer Bewegung den Willen der Natur zum unmittelbaren Verständniß bringt…” (Nietzsche: KSA 1, S. 559)

Das Ende der Veranstaltung mit Bruckners selten gespieltem Streichquintett in F-Dur dürfte in seiner Harmonie und Schönheit nicht nur den Romantikern unter den Gästen fast das Herz zerrissen haben. Fand sich doch die Zuschauer-Menge still vereint im grandiosen, ägyptoid anmutenden Treppenhaus lauschend, sehend, fühlend in ein Gesamtkunstwerk aus Ahnung, Sehnsucht, Trost, Vergangenheit und Gegenwart versponnen.

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt