Windkleider …

By cjg on 10. Februar 2016 — 2 mins read

Das Schneiderhandwerk zeigt viel. Etwas wird bekleidet oder verhüllt – z.B. mit Stoff. Dazu nimmt der Schneider Maß, handelt taxierend und prüfend. Sein Werk braucht das Andere. Das Andere kann lebendig sein – z.B. ein menschlicher Körper. Es kann auch künstlich und leblos sei – z.B. eine Schaufensterpuppe. Die Kreation ist weitgehend frei. Das Andere nicht, es muss stabil, fest, berechenbar bleiben. Sonnst gelingt das verhüllende Werk nicht. Könnte es auch eine Kleidung geben, ohne das zu Verhüllende?

Was ist mit dem Wind? Er ist da, nur nicht zu sehen. Er hat selbst keine Form. Er wird nur sichtbar durch ein Anderes. Wenn ein Tuch in den Wind gehängt wird, macht es jede Bewegung sichtbar, wie die große Deutschlandfahne vor dem Reichstag. Der Wind bekommt dann eine Form, verhüllt ist er allerdings nicht. Kein Schneider könnte ein Kleid für den Wind herstellen. Die Vorstellung reicht dazu nicht aus.

„…Die Physik unterscheidet sich von der Phänomenologie dadurch, dass sie Gesetze feststellen will. Die Phänomenologie stellt nur die Möglichkeiten fest…“ (Ludwig Wittgenstein: Wiener Ausgabe. Studientexte Band 1-5; Zweitausendeins-Ausgabe; Frankfurt am Main 1994; S. 4)

Bei einem Drachen liegt der Fall anders. Er ist durch seine Konstruktion schon in eine Form gebracht. Er benutzt den Wind. Er verhüllt ihn nicht. Der Drache ist wie ein Probeballon, der ins unbekannte Andere fliegt. Er ist ein Fingerzeig der eigenen Vorstellung, mehr nicht. Er ignoriert das Andere, obwohl er es braucht. Vielleicht aber ist der Drache das einzig Mögliche angesichts des form-fordernden Anderen, das Wind genannt wird?

“…Der Wind ist in Ordung, solange er seine Stelle kennt und nicht versucht, die Rolle eines Baumes zu spielen…” (Ebd., S. 96)

Mit dem Wind hat man es auch in der Philosophie zu tun. Das Andere ist da. Der Mensch steht ihn gegenüber und ist gleichzeitig Teil von ihm. Begriffe man die Philosophie als Schneiderhandwerk, dann wären Worte Stoffe und Philosophen Schneider. Ein Kleid gälte es herzustellen für das hochbewegte Andere, das Welt oder Dasein heißt.

Etwas umkleiden zu wollen, dessen Form nicht feststeht, wäre die Aufgabe. Der Auftraggeber bleibt im Hintergrund. Sein Wunsch war allerdings so nachdrücklich, dass sich schon etliche Schneider-Generationen daran probiert haben. Abfallen würde das ein oder andere Stückwerk dabei. Allerdings hätte es nur indirekt mit dem Auftrag zu tun und dürfte den Kunden nicht zufrieden stellen.

„…Ein Gegenstand darf sich in gewissem Sinne nicht beschreiben lassen (…) D.h. die Beschreibung darf ihm keine Eigenschaften zuschreiben, deren Fehlen die Existenz des Gegenstands selbst zunichte machen würde. D.h. die Beschreibung darf niemals aussagen, was für die Existenz des Gegenstandes wesentlich wäre…“ (Ebd., S. 6)

Wenn das Wesen der Dinge ein einziges wäre, könnte es wie der Wind sein. Sein Anderes macht es nur sicht- aber nicht formbar. Die Suche nach seiner Form bringt allerdings permanent neues Anderes hervor.

Veröffentlicht in: Gedankenwerkstatt