Wanderungen im Ge-Stell: AR(chitekturporno)

By cjg on 4. Oktober 2021 — 4 mins read

Architekturporno oder auch „architectureporn“ sind in der Szene bekannte Begriffe. Sie zeugen von einem Problembewusstsein, denn Architektur findet heutzutage im gerüttelt Maß visuell (Simulationen, Renderings, Broschüren, Bildergalerien etc.) statt.

Lediglich augenscheinliche Sphären schließen leibliches Erleben zwar nicht ganz aus, schränken dessen Wirkungsbreite allerdings ein. Merleau-Ponty lehrte uns diesbezüglich z. B. eine Leiblichkeit des lüsternen Blickes, indem er die verschränkende Natur des Fleisches (Chiasmus) beschrieb. Dennoch lässt es sich – im Heideggerschen Sinne – in Bildern nun einmal nicht wohnen.

„Wohnliche“ Leiblichkeit nämlich sollte Sinn, Zweck und Ziel der (Bau)Kunst sein. Das jedenfalls, war Jahrtausende so, in denen Ort und Architektur untrennbar verbunden waren. Womit wir beim Thema wären, denn der digitale Zeitgeist vermittelt uns das Gegenteil – mindestens aber eine radikale Verschiebung der Koordinaten.

Bilder begleiten uns im medialisierten Alltag permanent: Fernsehen, Mobiltelefon, Rechner, Zeitung, Magazin etc. Aber auch im Straßenraum, in der U-Bahn oder im Flugzeug ist es kaum möglich, Bildern zu entgehen. Wohl dem, der noch erkennen kann, dass es Bilder sind und wie diese sich unterscheiden von einer unmittelbaren Wahrnehmung der Welt. Noch wohler dem, der Heideggers Aufsatz „Die Zeit des Weltbildes“ gelesen hat.

In diesem Text erklärt einer der „wirkmächtigsten Denker des 20. Jahrhunderts“ (Lorenz Jäger) die Genese der Kluft zwischen Subjekt und Objekt, Blickendem und Angeblicktem. Das Bild steht für diesen Bruch: „Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, dass es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.“ (siehe unten: Heidegger, 89)

Der Witz an dieser egomanischen Zweidimensionalisierung ist die gleichlaufende Einbettbarkeit dieser Hergestelltheiten durch Dritte – selbstredend vor dem Hintergrund der jeweiligen Machtkonstellationen. So ließe sich hier z. B. die Absage an den Medienbetrieb entfalten, aber das würde die Route dieses Spaziergangs durch das Ge-Stell überdehnen. Nur soviel und wiederum mit Heidegger: „Wo die Welt zum Bild wird, kommt das System, und zwar nicht nur im Denken, zur Herrschaft.“ (Ebd., 101)

Der Architekturporno entspringt selbstredend ebenfalls dieser systematischen Logik einer Welt als Bild und so, wie Pornohefte von Pornofilmen abgelöst wurden, steht die sog. Augmented Reality-Technologie (AR, zu deutsch: erweiterte Realität) bereit, ein interaktives Bild in Echtzeit über die wirkliche Welt zu legen. Die AR vermag also, das Bild in eine simulierte Dreidimensionalität zu bringen.

In der Internetausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Link unten) vom 22. August beschrieb man die weltweit erste „AR-Biennale“ mit virtuellen Skulpturen im Park. Handybesitzern sei möglich, per abgetasteten „QR-Codes“, Phantasiewesen, schwarze Würfel oder eben Skulpturen zu sehen, wo keine sind. Das Mobiltelefon wird also zum Fenster in die unwirklichen Simulationen von Allerlei und Allerhand. Dieses „hybrid-poppige Arkadien“ (Ebd.) müsse allerdings „altmodisch körperlich durchmessen“ (Ebd.) werden.

Der nächste Streich sei schon geplant und mit „Willkommen im Paradies“ betitelt. Eines, in dem Menschen mit Roboterkugeln tanzen könnten und von Düften wie textiler Vegetation umgeben seien. Gegen Ende des Artikels kommt die Autorin dann auf den Punkt: mit Abstand besehen, bleibe derzeit allerdings der Blick auf Menschen mit Mobiltelefonen übrig, die irgendwohin gehalten würden, als wären sie magische Apparate.

Ja genau, die Immersion (Eintauchen) ins „Paradies“ muss freilich noch viel besser gelingen. Am besten, indem man den visuellen Cortex per Implantat direkt ansteuert. Wenn man schon dabei ist, könnte man auch die anderen Hirnregionen triggern, so dass ein „altmodisches körperliches Durchschreiten“ vermeidbar wäre. Der magische Apparat sollte unmittelbar nach der Geburt eingepflanzt werden, damit man endlich von der Wiege bis zu Bahre das Richtige erleben kann.

Keine Zweifel würden einen noch plagen. Leiblichkeit, Gespür oder Orte bräuchte man auch keine mehr. Ein visueller oder akustischer Impuls kann nämlich eine körperliche Reaktion kontrolliert und reproduzierbar hervorrufen, wie Iwan Petrowitsch Pawlow schon in den 1920er Jahren zeigte. Auf diese Weise ließe sich auch bauliche „Schönheit“, diese üble weiße Vorherrschaftsmethode, aus der Welt schaffen und durch die gebaute „Wokeness“ ersetzen.

Wir sehen, dass der „AR- chitekturporno“ eine Menge Potential hat und können schon gespannt sein.

Quellen:

Faz.net: „AR-Ausstellung in Düsseldorf. Ich sehe was, was Du nicht siehst“, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/ar-biennale-im-nrw-forum-duesseldorf-17496510.html [Zugriff am 16.09.21].

Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes; in: HGA Bd. 5; 2. Aufl.; FaM: Klostermann; 2003; S. 75-115.

Erschienen: Online-Kolumne bei TUMULT – Vierteljahresschrift für Konsensstörung

WANDERUNGEN IM GE-STELL

Architektur: von der Königin der Kunst zum binärkodierten Bild innerhalb von Rechenmaschinen. An einer ehemaligen Zunft lässt sich der Siegeszug der Kybernetik trefflich nachzeichnen und zugehörig die bedingungslose Kapitulation vor dem Sachzwang des Ge-Stells. Diese Kolumne wird Spaziergänge auf den Schlachtfeldern der Moderne dokumentieren. Sie wird kriegsgeschichtliche Beispiele referieren, Operationspläne, taktische Skizzen, Munitionsreste und Waffensysteme sichten, Trümmer betrachten oder auch versprengte Stoßtrupps zu Wort kommen lassen.

https://www.tumult-magazine.net/post/christian-j-grothaus-wanderungen-im-ge-stell-ar-chitekturporno