Die Editoren von »Lars Müller Publishers« haben es mit dem Unkonkreten. Nach den Bänden »Atmosphäre« von Elisabeth Blum und »unbestimmt« der Zürcher Hochschule der Künste, kam letzten Winter in der englischsprachigen Reihe »Manifesto Series« der Titel »Formless« heraus. Das gebundene, reich bebilderte Heftchen auf dickem Glanzpapier scheint dem Thema alle Ehre machen zu wollen, so war man offensichtlich bemüht, eingeschliffene Lesegewohnheiten zu konterkarieren. Man muss sich das Büchlein regelrecht aneignen, es mal 90, dann 180° drehen, sich in teils unbequemen Typografien zurechtfinden und mit Gelassenheit die Ahnung ertragen, doch nicht alle Texte entdeckt zu haben.
Das Buch selbst will also die Botschaft sein. Implizit damit verbunden ist die Frage nach der Verbindung von Nutzen und Formlosigkeit. Kann der Nutzen auch das Spiel sein, in dessen Verlauf der Weg das Ziel ist? In diesem Tenor ließt sich auch das Vorwort der Herausgeber Gerritt Ricciardi und Julian Rose, die behaupten, dass das Formlose produktiv sei und darauf weise, dass die Anfänge von und für Architektur wichtig seien. Ein interessanter Aspekt, denn ist die Baukunst nicht mittlerweile erstickt in Zwecken und Zielen, verkümmert in Virtualitäten und Baueffizienzen und verspannt auf der Richtbank der Investoren und Projektmanager?
Elf Aufsätze erwarten den Leser – wie gesagt, in englischer Sprache. Hilfreich sind die jeweils vorangestellten Auflistungen der Kernaussagen. Lucia Allais z. B. zeigt die Fotografien des österreichischen Geologen Alois Kieslinger (1900-1975) über die sonderbaren Folgen der Steinverwitterung an Baudenkmalen. Hal Foster sieht die prekären Verhältnisse des neoliberalen Kapitalismus als Formlosigkeit an und verortet sie auch in der Kunst. Für »formlessfinder« zeigt sich architektonisches Potenzial in der Unkontrollierbarkeit und Möglichkeit, jederzeit verschiedene Richtungen einzunehmen – da kommt Ihnen der sog. Steppenroller (tumbleweed) als Symbol gerade recht. Julie Bargmann wiederum entdeckt Robert Smithson (1938-1973). Sie versucht, Montanlandschaften oder verlassenen Brachen im städtischen Gefüge Positives abzugewinnen und die geleistete Arbeit bei deren Herstellung zu würdigen.
Aufschlussreich wie originell beschreibt Axel Kilian Fragmente einer negativen Gestaltungsontologie. Er stellt zunächst fest, dass das Formlose die Antwort auf eine Kultur ist, die dem Primat der Geometrie folgt. Diese visuelle Mathematik stelle sich zweideutig dar, nämlich puristisch (simplicity) oder auch üppig und schwelgend (exuberance). Für Kilian bedeutet Formlosigkeit ein Drittes, das er als Modus einer Abwesenheit von Form sieht. Er schlägt weiter vor, diese Form von Negativität, sprich Un-form, zum Parameter der Gestaltungen werden zu lassen: „The formless approach might be described as the »steering of form«: a play of influencing the design with a system that defines an open solution space of possible outcomes, each based on different interactions of constraints.«
Gestalter, die für ihre Hervorbringungen den Anfang im Sinn haben und nicht das Ende, denen Ziele und Zwecke die Luft zum Atmen nehmen, die neue Wege gehen wollen und nicht ausgetreten Pfaden folgen, für die Möglichkeiten das täglich Brot sind, die sich überraschen lassen von den eigenen Erfindungen, die das Vage wagen – all diesen oder jenen, denen das Gesagte nicht allzu fern ist, werden vom vorliegenden Büchlein profitieren.
Erschienen: AZ/Architekturzeitung