Deutschland um 1900. Eine unzeitgemäße Betrachtung?

By cjg on 8. Mai 2017 — 2 mins read

Gewichtig und groß stellt sich das neue Buch „Deutschland um 1900“ dar. Der Taschen-Verlag präsentiert darin auf 612 Seiten rund 800 Farbbilder. Das sogenannte Photochromverfahren, Druckplatten auf Basis der Fotografie, machte es seinerzeit möglich, die wilhelminische Welt „in naturgetreuer Farbwiedergabe“ zu dokumentieren.

Das Interesse an Technik- und Mediengeschichte mag ein Zugang sein, um dieses Buch in die Hand zu nehmen. Gemeinhin wird der Durchbruch der Fotografie in den 1830er Jahren in Frankreich verortet und mit dem Namen Louis Jacques Mandé Daguerre verbunden. Der Schweizer Hans Jacob Schmidt wiederum ließ sich 1888 die Photochromtechnik patentieren.

Im Deutschen Reich fand das neue Verfahren breite Anwendung, etwa bei Portraits, für Ansichtskarten oder auch Werbebilder: „Der ‚Souvenir-Fotografie‘ haben wir es zu verdanken, dass die ‚guten alten Zeiten‘ in voller Pracht auferstehen, den virtuosen Photochromisten, dass sie es in Farbe tun!“, so die Buchautoren in der Einleitung.

Die gute alte Zeit wird in sechs Kapiteln deutlich. Zu Beginn mit „Berlin und Umgebung“, gefolgt von „Nord- und Ostsee. Küsten und Inseln“, „Die Elbe hinauf“ und „Im Herzen Deutschlands“. Weiter Einblicke werden dem Leser gewährt in den Abschnitten „Den Rhein hinauf bis zum Schwarzwald“ und „Bayern“.

Nach der Gründung 1871 blühte und gedieh das Deutsche Reich. 1890 bis 1914, dem Beginn des Ersten Weltkrieges, wuchs die Wirtschaftskraft permanent. Aber das ist nur eine Perspektive auf jene Jahre. Eine weitere ist eine kulturwissenschaftliche, denn bedeutsam ist das, was abgebildet wurde und welche Wirkung entsteht.

Die deutschen Photochrome gehören zu den ältesten und zahlreichsten, lesen wir zu Beginn und weiter unten, dass die Abbildungen lyrischen Zauber enthielten, den Betrachter in den Bann zögen, ihn überraschten und berührten. „Die folgenden Seiten zeigen die Erinnerungen eines Landes. Eine Erinnerung in Farbe.“

Und tatsächlich, oberflächlich blättert man „Deutschland um 1900“ nur ganz am Anfang durch. Schnell tritt Verlangsamung ein, denn nicht nur die Szenografie aus Architektur, Stadt, Landschaft oder Natur lässt einen ruhiger werden, sondern auch das Studium von Gestik, Mimik und Kleidung der damaligen Landsleute.

Das vorliegende Buch macht eine Reise in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen möglich. Dieses Gedächtnis ist offenbar geprägt von Ruhe, Harmonie, Beständigkeit. Es ist zutiefst romantisch insofern, als dass die Oberfläche der Bilder durchstoßen wird, um in tieferen Gehalten zu verweilen. Die Photochrome scheint mytho-poetisches Potenzial zu durchziehen.

„Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.“, so Jan Assmann in „Das kulturelle Gedächtnis“. Ein Buch, das optimal als begleitende Lektüre passt. Erinnerung wirkt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv. Sie ist nicht bloß Vergangenheit, sondern fortwährender Quell.

Freilich kommen auch Friedrich Nietzsches mahnende Sätze aus den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ in den Sinn. Das Vergessen markiere demnach einen wichtigen Vorgang im Geflecht von „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ – freilich niedergeschrieben in einer Zeit, in der Deutschland durch alliierte Bomber noch nicht großflächig zerstört war.

Wechselweise, so Nietzsche, verdeckten monumentale, antiquarische oder kritische Herangehensweisen und zugehörig die Motive „Größe, Ewigkeit, Sentimentalität, Seelenschmerz, Abrechnung, Distanzierung“ einen angemessenen Umgang mit der Geschichte. Dieser könne nur erwachsen, wenn der unmittelbare Nutzen „zum Zweck des Lebens“ beachtet werde.

Unzeitgemäß sind diese Betrachtungen noch immer. Insofern kommt „Deutschland 1900“ zur rechten Zeit. Möge dieses Buch nicht nur Monumentalisten, Antiquierer oder Kritiker auf den Plan rufen, sondern auch jene erreichen, für die das deutsche kulturelle Gedächtnis ein „lebendiges Eines“ ist.

Erschienen: Faust Kultur, Link