Die schlechte Unendlichkeit …

By cjg on 12. März 2017 — 9 mins read

Der folgende Essay lässt ein Lot in die Tiefen sinken, das bei Grundkontakt eine fatale Neigung nachzeichnet, die Teile von uns Deutschen in die Autoaggression und zur Selbstverleugnung treiben kann. So schrieb der konservative Nachkriegslotse Armin Mohler im Essay »Und dann und wann ein Caspar David Friedrich« über die bildende Kunst und zeigte an ihr eine »schlechte Unendlichkeit« auf. Weniger bei Hegels identischer Formulierung aus der Wissenschaft der Logik, inhaltlich aber nah an Sedlmayrs Verlust der Mitte, konstatiert Mohler als weitere Implikation einen Gegenstandsverlust als symptomatisch für die »Zerdehnung« des Kunstbegriffs. Generell billigt Mohler dem Künstler eine Offenheit für außerhalb seiner selbst liegende »Potenzen« zu. Solche seien stets an Umwelt und Gegenstand gebunden. Ohne diese Bezugsgrößen »knistert es eben nicht mehr«.

Denkt man dieses Motiv weiter, kann die Abwendung vom Gegenstand und die Hinwendung zur bloßen Reflexion stellvertretend stehen für die Abwendung von der Wirklichkeit und die Hinwendung zur Möglichkeit. Gegenwartsbezüge liegen auf der Hand. Man denke hierbei nur an die Frontverläufe im Streit um die Masseneinwanderung, wo Globalisten (Möglichkeitsfraktion) im Modus repressiver Toleranz gegen die autochthonen Völker (Wirklichkeitsfraktion) stehen. Die so verstandene Wirklichkeits-Möglichkeits-Dialektik nimmt freilich auch Anleihen beim antiken abendländische Denken. Sannen über die Ambivalenz von Möglichkeit und Wirklichkeit doch bereits Platon und Aristoteles nach. Freilich wollten die Alten noch auf ewig gültige Gesetze der Harmonie und Proportion hinaus, während bei Mohler die wahre Wirklichkeit nicht mehr allein aus der strengen Mathematik ießt. Im Essay »Maria auf dem Dolmen« zeigt er das am Beispiel romanischer Kirchen und deren spezi scher Uneindeutigkeit. So fände sich kein mathematisch korrekter Grundriss. Überall gäbe es Abweichungen, und man spüre, »dass für die Erbauer dieser Kirchen der Stein etwas Lebendiges war, auf dessen Schwingungen man einging«.

Bleiben wir bei der griechischen Klassik. Sie rückte in Deutschland zu Beginn und neuerlich am Ende des 19. Jahrhunderts in einen staats- wie identitätsbildenden Rang auf. Nach Martin Heidegger ein eminent wichtiger Vorgang, den er in der Interpretation von Friedrich Hölderlins Hymne »Der Ister« entfaltet. Die Ambivalenz des (deutschen) Daseins zeige sich im Eigenen, das an das Fremde des antiken Griechentums gebunden bleibe. Die Kenntnis dieser »wesenhaften Gegensätzlichkeit« mache für uns eine »echte Beziehung« möglich, die nicht bloß »wirre Vermischung, sondern fügende Unterscheidung« sei. Das antike Griechentum ist es also, durch das uns das Eigene klar werden soll. Ein Referenzmuster in den Schriften zahlreicher Protagonisten der Romantik und der Klassik. Es müsste sich im Denken entlang der Alten also auch die Mohlersche »schlechte Unendlichkeit« auftun. Und tatsächlich scheint Friedrich von Hardenberg (Novalis) ein Zeuge der deutschen Sehnsucht zu sein nach autopoietischer Innerlichkeit bei gleichzeitiger Geringschätzung der Wirklichkeit. Er schildert in Die Lehrlinge von Sais zwar die Unerschöp ichkeit der natürlichen Umwelt, warnt aber zugleich vor Leid und Qual beim Versuch der Durchdringung derselben und schlägt eine Abkürzung ins Intelligible vor. »Die reinere Welt liegt ja in uns, in diesem Quell«, heißt es dort, und diese offenbare auch den eigentlichen Sinn. Einen, der sich als Schrift zeige und uns in den Zustand versetze, »den Gang des großen Uhrwerks [zu] wissen«. In den »Dialogen« von 1798 wird Novalis noch deutlicher und bezieht sich direkt auf die (schlechte) Unendlichkeit. Eine ursprüngliche und unend- liche Existenz sei demnach die Lust. Im Gegensatz dazu entstünde alles Endliche, also unser Leben, aus der Unlust. Was mithin zu tun bleibt: »Verwandlung der Unlust in Lust […] durch eigenmächtige Absonderung und Erhebung des Geistes, des Bewußtseyns der Illusion, als solcher.« Diese Stippvisite mag verdeutlichen, dass die deutschen Anlagen zu einer »schlechten Unendlichkeit« in der Anti- kenrezeption der Romantik auffindbar sind – Novalis macht den »Durchgang durch die Fremde« und verirrt sich offensichtlich dabei.

Es lohnt in diesem Zusammenhang, einen Blick auf Carl Schmitt und dessen Buch Politische Romantik zu werfen. Schmitt beschreibt darin eine Tendenz, die die Möglichkeit zur »höheren Kategorie« erhebt und sie in Stellung gegen die »Beschränktheit der konkreten Wirklichkeit« bringt. Das allmächtige Ich verliere im Augenblick der Realisierung einer Möglichkeit sein Potenzial. Deshalb müsse jedes Wort, jede De nition, jede Begründung falsch sein, »denn mit dem Grund ist immer auch eine Grenze gegeben«. Wo in vorangegangenen Zeiten eine transzendente Verschmel- zungsebene zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit nur in Gott existiert habe, müsse der Mensch diese Aufgabe nun selbst übernehmen; allerdings, indem er »[…] den beiden neuen Demiurgen, der Menschheit und der Geschichte, die Aufgabe einer solchen Vereinigung […]« zuweise. Nach Rousseau sei jede Tat, jede Handlung eines Einzelnen in einem gefühlsbestimmten »übermenschlichen Gesamtindividuum«, dem Volk, aufgehoben. Offenbar gibt es neben der »schlechten Unendlichkeit« auch einen schlechten Volksbegriff. Und folgerichtig hebt Schmitt zur Kritik an und entgegnet, dass das reale Volk nichts mit einem »Träger der Naivität« zu tun habe. Vielmehr werde ihm »die Quelle unerschöp icher Möglichkeiten« bloß zugewiesen, und der Antagonismus zwischen »rationaler Begrenztheit« und »irrationaler Möglichkeitsfülle« tauche lediglich in einer neuen Variante auf. Heutzutage, im Dauerbetrieb der »schlechten Unendlichkeit«, haben alle(!) Menschen dieses Planeten eine solche gefühlsmäßige Gemeinschaft in gottgleichem Range – gleichsam als Weltvolk.

Auch in der 68er-Bewegung lassen sich diesbezügliche Spuren verfolgen, wie Rüdiger Safranski in seinem Buch Romantik. Eine deutsche Affäre unter Beweis stellt. So bescheinigt er jener Zeit »[…] ein aus Fichte und Rousseau trübe gemischtes romantisches Erbe«. Nun, da die Einzelnen in einer Welt des technischen und warenförmigen Überflusses standen, richtete sich das Begehren der Möglichkeitsfraktion wiederum politisch aus und ng an, gegen das System zu opponieren. Es geschah gewissermaßen eine negative Polarisation (»Macht kaputt, was euch kaputt macht!«): »Man glaubte, daß die Stunde gekommen sei, den Traum zu entbinden, mit dem die wirklichen Verhältnisse angeblich schwanger gingen.« Offenbar gab es reiche Nährböden »schlechter Unendlichkeit«, und es ging eine Saat auf, die 150 Jahre zuvor ausgebracht worden war: ausschließlich subjektzentrierte Potenzialität (Autopoiesis), Sehnsucht nach der Verkörperung der unbewussten Unendlichkeit (Bewusstseinserweiterung) und eine Priorisierung des Lustprinzips (sexuelle Befreiung). Das Hardenbergsche Programm von 1798 konnte sich offenbar vollends verwirklichen.

Armin Mohler subsumierte die neomarxistischen Nachfolger der 1968er dem Slogan anything goes. Bildeten die unruhigen Studenten in Berkeley, Paris, Rom und Berlin noch ein Rousseausches Gesamtindividuum, lehnten die postmodernen Denker jeden verbindenden Horizont ab: »Eindeutig war jedoch, was sie nicht wollten: jene Meta-Erzählungen, die auch uns nicht geheuer waren.« Mohler erkannte hierin eine Anschlussfähigkeit für rechtes Denken, verteidigten die Postmodernen doch »[…] die Komplexität alles Wirklichen und [den] Vorrang des Besonderen vor dem Allgemeinen«. In der Tat eröffnet sich damit eine Programmatik, die einen Ausgang aus der »schlechten Unendlichkeit« möglich macht.

Johann Wolfgang von Goethe verdeutlicht in seinem Text »Winckelmann« gleich zu Beginn das Grundprogramm des Deutschen Idealismus. So sei der gesunde Mensch in der Lage, das Ganze zu fühlen. Was zunächst auch als romantischer Eskapismus daherzukommen scheint, entpuppt sich bald als echte Alternative. So verdeutlicht Goethe, dass die Alten stets mit der Wirklichkeit verbunden waren: »Alle hielten sich am Nächsten, Wahren, Wirklichen fest, und selbst ihre Phantasiebilder haben Knochen und Mark […].« Der Dichterfürst schreibt demnach der griechischen Antike eine Balance zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu, die aus dem Bewusstsein herrühre, Teil eines umfassenden, aber nicht vollständig erkennbaren, konkreten(!) Ganzen zu sein. Eine »Zerstückelung dieser Einheit« könne durch das Vollständige der Persönlichkeit aufgehalten werden. Der Unterschied zur »Verwandlung von Unlust zu Lust durch eigenmächtige Absonderung und Erhebung des Geistes« (Novalis) kann nicht deutlicher sein.

Bedeutsam ist, dass Goethe solche Denkungsart mit dem Heidnischen verbindet. Verehrung der Ahnherren und Vorfahren, Vertrauen in das Schicksal, Sinn für die Welt und ihre Güter, kurzum eine organische Verbundenheit mit Umwelt, Herkunft und Überlieferung schenkte dem antiken Menschen eine »unverwüstliche Gesundheit«. Auch in den Maximen und Re exionen nden sich diese Überlegungen. Der Mensch sei in die Mitte der wirklichen Welt gesetzt und könne »[…] nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen […]«. Nebenbei und nicht hauptsächlich – eine Einrückung des Möglichen wird hier deutlich. Goethe fügt hinzu, dass alle gesunden Menschen eine solche Überzeugung von dem Dasein teilten. Allerdings gäbe es »[…] einen holen Fleck im Gehirn […]«. Ebendort würde sich kein Gegenstand spiegeln, und es herrsche Blindheit. Manche verlören sich in diesem Fleck und begännen, Dinge zu ahnen, die »[…] eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung haben«. Eine »leere Nacht-Räumlichkeit« sei die Begleiterscheinung solcher Geisteskrankheit, die Angst verbreiten könne und die Betroffenen Gespenster sehen lasse.

Die Übertragbarkeit dieser Gedanken auf die Gegenwart ist staunenswert. Welcher im soeben entfalteten Sinne gesunde Deutsche hat sich nicht schon verwundert die Augen gerieben angesichts verbissener, nurmehr pathologisch zu nennender Autoaggressionen hiesiger Funktionseliten? Mit dem Goetheschen Aphorismus schließt sich aber auch der Kreis zu Mohlers »schlechter Unendlichkeit«, die er in der modernen Kunst bemerkte. Das Virus im deutschen Wesen residiert offenbar in jenem »hohlen Fleck«, Sitz unserer romantisch potenzierten Neigung, sich in die Möglichkeit zu stürzen und dabei die Wirklichkeit zu vergessen.

In der deutschen Gegenwart zeigen sich ungeerdete Möglichkeitsregimes zuhauf – in hypermoralischen politischen Theologien, in den virtuellen Welten des Fernsehens, in Computerspielen und im Internet. Die gute Unendlichkeit hingegen schließt (begrifflich paradox) ihre Endlichkeit ein. Sie fokussiert das unerschöpflich Wirkliche und stellt den Einzelnen in ein Verhältnis zur Welt. Mit Heidegger zeigt sie ihm dessen jeweiliges Dasein als »geworfenen Entwurf«. Nur in dieser Haltung kann es gelingen, sich als Teil einer unüberschaubaren Wirklichkeit zu akzeptieren, zugleich aber die Fähigkeit zu bewahren, dieselbe zu beeinflussen und sich in ihre jeweiligen Grenzen zu fügen.

Erschienen: TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung. Frühjahr 2017, PDF-Fassung

Literatur:
Martin Heidegger: »Hölderlins Hymne ›Der Ister‹«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 53, 2. Au ., hrsg. von Walter Biemel. Frankfurt/Main 1993.
Armin Mohler: »Vom unbewußten Denken«, in: ders.: Was die Deutschen fürchten. Angst vor der Politik. Angst vor der Geschichte. Angst vor der Macht, Berlin/Frankfurt 1966, S. 19–21.
Armin Mohler: »Und dann und wann ein Caspar David Friedrich«, in: ders.: Der Streifzug. Blicke auf Bilder, Bücher und Menschen. Dresden 2001, S. 10–22.
Armin Mohler: »Maria auf dem Dolmen«, in: ders.: Der Streifzug, a.a.O., S. 22–31.
Armin Mohler: »Die 68er, die Rechte und die Postmoderne: Dauer und Intensität«, in ders.: Notizen aus dem Interregnum. Schnellroda 2013, S. 42–47.
Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007. Carl Schmitt: Politische Romantik, 6. Au . Berlin 1998.
Johann Wolfgang von Goethe: »Winckelmann«, in: Johann Wolfgang von Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 12. München 2000, S. 96–129.
Johann Wolfgang von Goethe: »Religion und Christentum«, in: Maximen und Re exionen, in: Goethe, a.a.O., S. 365–512.
Friedrich von Hardenberg: Die Lehrlinge zu Sais, in: Novalis. Werke. Tagebücher und Briefe, Bd. 1, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1999, S. 199–237.
Friedrich von Hardenberg: »Dialoge und Monolog«, in: Novalis, Bd. 2, a.a.O., S. 309–439.

Weiterführende Literatur:
Frank Böckelmann: Jargon der Weltoffenheit. Was sind unsere Werte noch wert? Waltrop/Leipzig 2014.
Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. 11. Au . Salzburg/Wien 1998.