Das zehnte Jubliäum des Kolleg Friedrich Nietzsche wiegt für mich doppelt, denn vor einer Dekade begann auch meine Freundschaft zu dessen Gründer und Leiter Rüdiger Schmidt-Grépály. Der „Ort für freie Geister“ wäre ohne ihn nicht das geworden, was er ist; nähmlich ein Ort, an dem Friedrich Nietzsche nicht nur erforscht, sondern „gelebt“ wird.
Es sind die kleinen Momente, die klar machen, was Rüdiger Schmidt-Grépály auszeichnet. Beim gemeinsamen Spaziergang oder einem Beisammensein entstehen zwischendurch wunderbare „en passant-Dialoge“ wie dieser:
„Wissen Sie, was unser Problem ist?“
„Nein, was denn?“
„Dass 2+2=4 ist.“
Ein freier Geist ist eben nur einem verpflichtet – dem Denken; und das 24 Stunden am Tag / 365 Tage im Jahr. Da sind wir auch schon beim Kern. Es geht im Kolleg Friedrich Nietzsche ums Denken; ein Denken, das sich genügt, weil es den Menschen freigibt – in seine Freiheit gibt.
Nur ein freier Geist ist sich permanent darüber im Klaren, dass das Denken Zeck und nicht Mittel ist. Und nur ein freier und damit „begriffsungläubiger“ Geist wird das Nietzsche-Wort: „…Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt…“ (KSA 3; S. 110) verstehen können und die „Entwerfer“ der Begriffs-Bauwerke von deren „Betonierern“ scheiden.
Eine gewisse Scheu vor dem Ressentiment möchte ich als das Erfolgsrezept des Kollegs ausmachen, denn nicht das Festhalten an Begriffen, sondern die Möglichkeit zur Erweiterung und Revidierung derselben, zeichnet den freien Geist aus: „… Menschen der Überzeugung kommen für alles Grundsätzliche von Werth und Unwerth gar nicht in Betracht. Überzeugungen sind Gefängnisse…“ (KSA 6, S. 236).
Das Fehlen jeder Angst vor der eigenen Schwäche kombiniert sich beim Leiter des Kollegs mit der Toleranz gegenüber den Schwächen anderer. Auch treffe ich eher selten Menschen, die eine klare Meinung zu verschiedensten Themen haben – und auch andere Haltungen kritisieren, aber genauso vehement das Abgelehnte respektieren. Gern zitiert Rüdiger Schmidt-Grépály in diesem Zusammenhang die G.W. Leibniz-Metapher von den verschiedenen Perspektiven auf eine Stadt (Discours de Métaphysique von 1686) und verwendet sie als Sinnbild für die Wichtigkeit der jeweils anderen Sichtweise.
Eine enorme Leidensfähigkeit ist dem Weimarer „Nietzsche-Statthalter“ zu Eigen und hat ihn durch manche Stürme geleitet. Die inneren Kämpfe und Abgründe dieses „qualvollen Heroismus“ möchte ich in einer weiteren Parallelisierung verdeutlichen, denn eines ist für mich klar: kämpfen wollen, tut er nicht: „…Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung!…“ (KSA 3, S. 521).
Die gelebte Haltung der Freiheit und Offenheit des Kollegs zog und zieht „Stars“ der Philosophen-Szene nach Weimar. Sie bringen Glanz in die „Stadt des deutschen Geistes“ und schützen sie davor, zu einem Freiluftmuseum für lustwandelnde Kulturbürger zu werden. Wer schon einmal in den Genuss der Gastfreundschaft des Hause Schmidt-Grépály kam wird wissen, dass es nicht übertrieben ist, von der Atmosphäre eines Privatsalons zu sprechen. In diesem fühlten und fühlen sich die zahlreichen Gäste sprichwörtlich wie zu Hause.
Weimar scheint widerständige -oder besser- freie Geister anzuziehen. Zunächst kommt mir hier Franz Liszt in den Sinn. Er hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergebens versucht, in der thüringischen Provinz die „Musik der Zukunft“ zu gründen und auch das „Bauhaus“ konnte bekanntlich nur vier Jahre dem Unverständnis der Bevölkerung und der Missgunst des kulturellen Establishments trotzen.
„…Ich glaube bestimmt, dass Weimar gerade um seiner Weltbekanntheit willen der geeignetste Boden ist, um dort den Grundstein einer Republik der Geister zu legen…“, fiel Walter Gropius vor 90 Jahren anlässlich der Gründung seiner Avantgarde-Institution ein. Vielleicht mag Rüdiger Schmidt-Grépály das vor zehn Jahren ähnlich gesehen haben. Die Probleme jedenfalls, die die Avantgardisten und freien Geister mit dieser Stadt und deren Institutionen von jeher hatten, teilte er oft mit ihnen. Insofern kann das Kolleg Friedrich Nietzsche sich in die beste Tradition Weimars einreihen und das „Ethos der Widerständigkeit“ der freien Geister lebendig halten.
„…Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken — und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!…“ (KSA 3, S. 529). In diesem Sinne wünsche ich Kolleg und Leiter für die Zukunft, dass nicht abgewichen wird vom Kurs, denn ein „gelebter“ Nietzsche kann nur ein freier sein.
Erschienen in: Wagner, Julia und Wikle, Stefan (Hg.): Die Glücklichen sind neugierig. Zehn Jahre Kolleg Friedrich Nietzsche; Weimar 2009, S. 16 ff.