„In der Kontur suche ich die Linie“ …

By cjg on 29. Februar 2016 — 5 mins read

Am liebsten würde Ulrike van de Löcht keine Interpretation über ihr Werk anbieten, sondern zieht es vor, die Rezipienten dazu zu ermuntern, eine eigene zu entwickeln. Sie mag den Dialog mit ihren Hervorbringungen, die entschieden und entschlossen sind, so wie sie selbst – dabei aber stets suchend, ein wenig ehrfürchtig und wie auf dem Weg zu etwas anderem bleiben. Die Bildhauerin entwickelte sich entlang an der Kunst. Ihr diesbezügliches Lehramtsstudium hielt sie Jahrzehnte in der Vermittlung bzw. Ausbildung und verfeinerte die Fähigkeit zur Didaktik. Ein Ausdrucks- und Formwille für eigene Werke war jedoch immer vorhanden. Van de Löcht hatte den Kopf voller Ideen, ließ sich anregen durch Bilder und Gegenstände, Oberflächen oder Körperproportionen. Seit einigen Jahren widmet sie sich nur noch ihrer Kunst und das vor allem mit Marmor. In Quadern oder Kuben geliefert, bestimmt er die Dimensionen ihrer Werke in mehrfacher Hinsicht. Der Stein hat, so die Künstlerin, einen eigenen Fluss in sich und verfügt über große Unmittelbarkeit, die von der obligatorischen und höchst individuellen Maserung unterstützt wird. Zu einem gestalteten Objekt kann das Material aber nur werden, wenn dessen Form ins Leben gerät. Ein Vorgang, den van de Löcht in der Endphase ihrer Arbeit verortet: „Wenn man beginnt, die Oberfläche zu glätten, dann erst springt förmlich die Form hervor – sie zeigt sich und ihre Stahlkraft. Sie wird dann zu einem eigenen Objekt.“

Aber nicht nur die imaginative Dimension der Werke entspricht dem Formwillen der Bildhauerin, sondern auch die konkrete. Maß und Proportion sind ihr keine Fremdworte oder gar lästiges Erbe. In eine kanonische Stasis führt diese Haltung jedoch nicht, denn die Skulpturen leben auch von ihren Binnenräumen, die gleichzeitig die äußeren mitprägen. Alle Seiten des jeweiligen Objekts haben Themen, sind bearbeitet und eigenständig. Verschiedenste Perspektiven können sich auf diese Weise entfalten. Ulrike van de Löcht weiß was sie tut, denn ein fünfjähriger Aufenthalt im griechischen Olympia, tägliche Besuche der Ruinen des Zeus-Tempels (errichtet 468-456 v. Chr.) sowie etliche Aufenthalte in den dortigen Museen hinterließen – zusammen mit dem Geist eines Ortes, an dem die kolossale Zeus-Staute des Phidias (gest. 430 v. Chr.) gestanden hatte – großen Eindruck. Die Beschäftigung mit der Hochklassik, ihren Proportionen, Maßen und Harmonien halten in der Bildhauerin noch heute das Verständnis wach für Ordnung, Zeitlosigkeit und Schönheit. Sicherlich speist sich die Vorliebe für den (freilich unbemalten) Marmor auch hieraus. Ethik und Körperlichkeit fanden in den antiken Statuen Ausdruck und diese Haltung ist es für van de Löcht noch heute wert, als Maß zu gelten. Eine Skulptur ist für sie gelungen, wenn sie in diesem Sinne berührt.

Weitere prägende Einflüsse macht die Bildhauerin in Max Beckmann (1884-1950) aus, vor allem in den Beinen bzw. Schenkeln seiner Frau, die in etlichen Bildern variiert sind. Weiche, fließende, spannungsreiche Oberflächen und aussagestarke Linien konnte sie dort entdecken. Diese Richtgrößen verarbeitete die Bildhauerin denn auch in ihrer ersten Schaffensphase, die figürlich geprägt war und vor allem weibliche Torsi entstehen ließ. Ineinander übergehende Formen, die voller Bewegung sind und doch ein Kontinuum bilden, erscheinen hier als Linienspiel in sanft geschwungenen Kurven. Ein Motiv, das Ulrike van de Löcht bis dato beschäftigt, obwohl sie längst das figürliche durch das abstrakte Gepräge ersetzt hat. Sie zeigt sich damit auch in der klassischen Moderne verwurzelt und folgt den Spuren Auguste Rodins (1840-1917). Der skulpturale Avantgardist jener Zeit begann – ganz dem Primat des Sehens verpflichtet – damit, weibliche Körper zu abstrahieren, um den Betrachtern neue räumlich-visuelle Erfahrungen zugänglich zu machen. Der Line als Kontur einer Gestalt kommt dabei große Bedeutung zu. Sie verkörpert das Spiel mit Ruhe und Bewegtheit.

Wassliy Kandinsky (1866-1944) definierte die Line als Punkt, der gerichtet in die Bewegung gesetzt wird. Die Bewegung wiederum sah er als Spannung an und verband mit ihr die Themen: Richtung und innere Kraft. Die Begriffe Kraft, Bewegung und Spannung werden auch von van de Löcht häufig verwendet, so geht sie davon aus, dass es die Kraft einer Form sei, die diese von innen nach außen drängen lässt. Deshalb ist für sie auch eine (Vor-) Zeichnung interessanter als das zugehörige Gemälde, denn im Strich zeigt der Künstler seinen eigentlichen Formwillen. Die Übertagung der Linie auf die dritte Dimension gelingt auch mit Kandinsky, denn der Aufbau einer Struktur im Raum war für ihn zur selben Zeit ein Linienaufbau. An solchen Linien, so vermutete er, kann man auch das Schicksal ganzer Völker ablesen, wenn deren Architekturen und Städte grafisch analysiert würden. Kandinsky ist ein guter Zeuge des Denkens seiner Zeit. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war man nämlich einem ganzheitlichen Anspruch verpflichtet. Interdisziplinarität schien selbstverständlich und die Schnittstellen von bildender zu darstellender Kunst kaum wahrnehmbar. Wo Objekte in Bewegung sind, wo Kraft und Richtung mit Körpern zusammengedacht werden, sind Tanz, Klang und Musik nicht weit. All dies wurde mit der Linie verbunden. Ihr forschten die Künstler nach. Sie war es, die den Aufbruch eines neuen Zeitalters auch in der Skulptur zu verkörpern hatte.

Von diesem Anspruch hat sich die heutige Kunst gelöst, aber das Thema der Linie bleibt nach wie vor virulent. „In der Kontur suche ich die Linie, in der Form die Weichheit“, so van de Löcht und weiter: „Aus dem harten Stein eine weiche Form hervorzubringen, ist die eigentliche Herausforderung.“ Die Linien ihrer Werke sind unendlich. Es war lediglich ein Entschluss, sie zu begrenzen. Sie setzen sich imaginär fort, sind quasi anschlussfähige Solitäre. Ausschnitte einer Bewegung, die alleine steht. Der Schwung der Linien bzw. ihre Kurven geben das Gepräge. Die Linien stehen unter Spannung. Sie sind nicht beliebig, sondern bewusst balanciert. Ihre Gleichgewichte wachsen im Prozess der Hervorbringung am Tonmodell und werden erst in einem zweiten Schritt in Marmor umgesetzt. Hier kommt der Bildhauerin der eher langsame Modus ihrer Profession zugute, denn er lässt Zeit zu Korrektur und Variation. Die Materialität der Skulptur oder ihr harter Kern besteht prinzipiell ‚nur’ aus einem sich windenden Quader, dessen Querschnittskanten komplexe Schwünge zeichnen. Das Auge kann den Graten dieser Schwünge folgen und sich in dessen Läufen verlieren. Die neueste Serie „Flügel“ lotet diese Grenzbeziehung zwischen Linie und Raum weiter aus, denn hier versucht van de Löcht das Flächige stärker in die Skulpturen zu integrieren und damit das Ungreifbare im Greifbaren näher zu fassen. Lassen wir uns überraschen!

Erschienen: Katalog zur Werkschau Ulrike van de Löcht