Architekten gehen wie selbstverständlich mit Material um. Haben Sie dabei aber tatsächlich noch einen Zugang dazu oder begnügen sich damit, in ihren CAD-Maschinen Bildchen auf virtuelle Modelle zu »mappen«? Fragt die Zunft sich noch, was das Wesen eines Materials sein könnte bzw. was es mit Materie, Materialität oder gar Intermaterialität auf sich hat? Ein neues Buch gibt Interessenten nun die Gelegenheit, sich diesbezügliche Perspektiven der Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaft anzueignen. Der zugehörige Sammelband aus dem Bielefelder Hause »transcript« ist in die drei Rubriken »Theorien, Praktiken, Perspektiven« gegliedert und birgt 14 Texte.
Thomas Strässle gibt in seiner Einleitung einen guten Blick auf das Thema. Der u.a. an der Hochschule der Künste in Bern lehrende Professor skizziert den noch jungen Diskurs zum Thema Intermaterialität und unterscheidet hierzu drei Hauptströmungen. Zunächst die Überwindung des Aristotelischen Form-Stoff-Dualismus (s.u.), dann die Erkenntnis, dass Medien die jeweils produzierten Inhalte mitbestimmen und zum Schluss die Annahme, dass auch Materialität erst in performativen Praktiken hervorgebracht wird. Wiederum in drei Felder, nämlich Interaktion, Transfer und Interferenz, teilt Strässle die Versuche ein, Intermaterialität zu definieren.
Mit ‚Interaktion’ können Architekten naturgemäß viel anfangen, geht es doch um die Korrespondenzverhältnisse des Materials, die unter den Schlagworten Atmosphäre, Sinnlichkeit oder Wirkung geläufig sind. Der ‚Transfer’ beschreibt die Übertragung von Eigenschaften und Funktionen von einem Material auf das andere. Hier ist der Aufsatz von Karin Lehmann lesenswert, denn sie markiert durch ihre Arbeiten mit Styropor die Destruktion von Erwartungen, so kann z.B. ein vermeintlicher Betonblock auf vier Streichhölzern stehen. Allerdings bestellt der Transfer auch das kritikwürdige Feld der Material-Unehrlichkeit durch die Reduktion auf das bloß Visuelle. Man vergegenwärtige sich z.B. die derzeit immer mehr um sich greifenden Fototapeten (z.B. Eichenmaserungen), mit denen Fassadenverkleidungen oder andere Flächen von Gebäuden beklebt werden. Mit ‚Interferenz’ schließlich ist die Auflösung bzw. gegenseitige Auslöschung von Materialien nebst der ästhetischen Wirkung dieses Prozesses gemeint.
Den Form-Stoff-Dualismus (eine wichtige Dichotomie für die Materialbetrachtung) erläutert Dieter Mersch. Am Stoff ist das Besondere, dass er während seiner Behandlung eine andere Gestalt erfährt als die, in der er zuvor war. Er kann also Formen empfangen und stellt sich in gewisser Weise passiv (erleidend) dar. Die gestaltprägende Form war in der Architekturgeschichte oft mit religiösen oder funktionalistischen Hierarchien verbunden bzw. gab sich durch Geometrie, Harmonie oder Proportion zum besten. Stets dominierte sie den Stoff und genau dieses Verhältnis wurde seit der Aufklärung sukzessive aufgelöst.
Nun fanden die (Bau-)Künstler die Qualität direkt im Material und ohne Umwege über vergeistigte Salbungen. Mehr noch, sie wurden sich bewusst, dass der Stoff dem Hervorbringenden entgegenkommt und ihn damit auch herausfordert. Die Dramatik der Präsenz und das Nichtverfügbare des Materials machten die Prozeduren der Nachahmung (etwa »ewiger« Ideen) obsolet. Aus der vormals dominanten Form konnte auf diese Weise eine gleichberechtigte werden, denn sie braucht das Material, um überhaupt in die Gestalt zu kommen. Wichtig am Form-Stoff-Dualismus ist auch die Erkenntnis, dass der Stoff zuerst da ist und jeder beliebigen Praktik vorhergeht.
Im Sammelband fällt auf, dass zwar über die bildende Kunst nachgedacht wird, aber die Architektur kein Gegenstand der Betrachtung ist. Aber welche, wenn nicht die Baukunst, weiß von Materialität zu zeugen? Wie sind z.B. die »neuen« Materialien in das Themenfeld der Intermaterialität einzuordnen – so u.a. die Erzeugnisse der 3D-Drucktechnik bzw. des »Rapid-Prototyping«? Bezogen auf den Form-Stoff-Dualismus z.B. wird nämlich durch diese Technologien das Wesen des Materials vollkommen negiert und auch dessen Vorgängigkeit beseitigt. Die Form kann den Stoff wieder dominieren, denn jede beliebige Gestalt ist im substanzlosen, virtuellen Milieu der Rechenmaschinen erzeugbar. Das Material liegt säckeweise und nur noch in Pulverform vor, wird damit seiner Widerständigkeit beraubt und erscheint als verfügbare Masse. Es gäbe also noch einiges zu denken im Themenfeld der Intermaterialität und zu wünschen wäre ein Folgeband, der auch die Baukunst befragt.
Erschienen: AZ/Architekturzeitung