Interview zur Brutalismus-Tagung …

By cjg on 8. Februar 2016 — 10 mins read

Florian Dreher arbeitet als wissenschaftlicher Angestellter am „Karlsruher Institut für Technologie (KIT)“ am Fachgebiet Architekturtheorie. Er organisierte zusammen mit der „Wüstenrot Stiftung“ und dem Masterstudiengang „Altbauinstandsetzung“ ein internationales Symposium an der Akademie der Künste in Berlin. Er wird in der Folge zum Thema „Brutalismus. Architekturen zwischen Alltag, Poesie und Theorie“ einige Fragen beatworten, die Christian J. Grothaus, Architekt und freier Autor aus Berlin für die DBZ stellte.

CJG: Ihre Tagung zum Brutalismus am 10. und 11. Mai in Berlin war sehr gut besucht – es werden insgesamt an die 1.000 Besucher gewesen sein. Für eine Veranstaltung, in der es um Architekturtheorie und Denkmalpflege geht, ist solche Resonanz durchaus bemerkenswert. War das ausschließlich Fachpublikum und wie erklären Sie sich dieses Interesse?

FD: Über die zahlreichen Teilnehmer der Tagung haben wir uns selbstverständlich sehr gefreut – es war ein toller Erfolg mit hervorragenden Beiträgen! Beide Veranstaltungstage waren sehr gut besucht, es übertraf unsere Erwartungen. Positiv war zu bemerken, dass sich unter den vielen Experten, auffallend viele Studierende sich befanden. Wie man sieht, war das Thema von uns zur richtigen Zeit gesetzt. Schon damals in den Vorbereitungen und in den Gesprächen mit den Referenten spürten wir das enorme Interesse und die Begeisterung, den Brutalismus zur Diskussion zu stellen. Natürlich bringt das Thema eine gewisse Provokation und Brisanz von sich aus mit, das war uns durchaus bewusst, aber auch die anhaltenden Abrissdiskussionen, u.a. von Robin Hood Gardens oder die erfolgte Beseitigung des Technischen Rathauses in Frankfurt, um einige prominente Fälle neben den vielen Unbekannten zu nennen, sind nach wie vor emotional belastet. Der Brutalismus eignet sich wunderbar als Feinbild für eine Politik und Architektur die sich der Rekonstruktion und Adaption von Geschichte zu Eigen macht. Hier prallen zwei unterschiedliche Haltungen von Geschichte und Gesellschaft zusammen. Nur von welchem Geschichtsbegriff sprechen wir eigentlich? Vielleicht ist es aber auch gerade die Kombination aus Architekturtheorie und Denkmalpflege, die der Tagung noch einen weiteren zusammenführenden Denkansatz in Aussicht gestellt hat.

CJG: Sie beschäftigen sich schon einige Jahre mit dem Brutalismus. Woher rührt dieses Interesse und welche Bedeutung messen Sie dieser Strömung der Nachkriegsmoderne bei?

FD: Mein Interesse führte mich vor mehreren Jahren über den Wohnungsbau in London aus den Fünfziger und Sechziger Jahren zum Brutalismus. Das London County Council entwickelte sich damals mit seinen jungen Architekten zu einer international geachteten Kompetenz im Bereich des Sozialen Wohnungsbau. Der Hamburger Kritiker Manfred Sack machte in seinem Artikel „London baut besser“ in der ZEIT (7. August 1970) auf die Qualitäten einer variantenreichen „Community Architecture“ aufmerksam. Viele dieser Bauten lassen sich dem Brutalismus zuschreiben. Außerdem interessiert mich diese Zeitphase in Zusammenhang mit meiner Dissertationsschrift über Max Bill und die Nachkriegsmoderne. Es waren Alison und Peter Smithson, die in der Anlage der HfG Ulm von Max Bill, eine neue Architektur „Without Rhetoric“ für sich entdeckt haben. Zudem haben Werner Sewing und ich uns in den letzten Jahren mehrfach auch in unseren Lehrveranstaltungen dem Thema Brutalismus gewidmet. Hier zeigte sich ein großer Diskussionsbedarf über die Entwicklung und Aufarbeitung des Brutalismus. Viele Ansätze aus dieser Zeitphase wirkten in spätere Strömungen, wie in den Strukturalismus, hinein. Man kann sagen, dass der Brutalismus diesbezüglich eine Laborsituation erzeugt hatte. Als Forschungsprojekt unseres Fachgebietes werden wir uns auch in den nächsten Jahren mit diesem Thema auseinandersetzen und weiterverfolgen. Zunächst steht aber das Buch, was die Wüstenrot Stiftung herausgeben wird, zur Tagung an.

CJG: Die „Wüstenrot Stiftung“ war der Mitveranstalter des Symposiums. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Worin sieht die Wüstenrot Stiftung die Brisanz des Themas?

FD: Mit der Wüstenrot Stiftung konnten wir einen wichtigen Partner in Fragen Baukultur und Denkmalpflege gewinnen. Es zeugt von Vertrauen und Voraussicht in dieses Projekt, dass sich die Stiftung mit dem Thema der Sechziger Jahre Architektur und im besonderen mit dem Brutalismus beschäftigt und sich an Fragen zur Denkmalpflegetheorie für diese bedrohte Architektur heranwagt. Nach dem nun die Nachkriegsmoderne ein anerkanntes Forschungsfeld mit all seinen Spezifizierungen aufweist und die Ergebnisse gut publiziert sind, gilt es darüber hinaus, sich den darauffolgenden Entwicklungen nicht zu verschließen. Dies gilt auch in Bezug auf die Zusammenarbeit unserer beider Fachgebiete, Architekturtheorie und Altbauinstandsetzung/Denkmalpflege, die viel zu oft als Einzelakteure agieren. Die Kommunikation und der beidseitige Austausch beider Metiers gilt es wesentlich zu verbessern. Hierzu war unsere Tagung auch ein Anlass dies zu erproben.

CJG: Ging es Ihnen auch darum, den Teilnehmern die oft ungeliebte Nachkriegsarchitektur in Deutschland näher zu bringen? Wo liegt ihrer Meinung nach die besondere Qualität dieser Gebäude?

FD: Natürlich wollten wir mit unserer Tagung einen Beitrag zum Verständnis und zur Sensibilität erreichen. Das sich hinter dem Brutalismus mehr verbirgt, als es uns die Labels von „brutal“ oder „Sichtbeton“ vormachen, muss kommuniziert werden. Also Basisarbeit auf allen Ebenen. Es sind gerade die räumlichen, plastischen Qualitäten brutalistischer Gebäude, die eine gewisse Spannung neben der sinnlichen Erfahrung des Materials mit sich bringen. Dagegen verblassen manch zeitgenössische Architekturen in ihrer räumlichen Armut und einfallslosen Oberfläche. Im Brutalismus ist noch ein allumfassender Gestaltungsanspruch, mit politischer und sozialer Verantwortung, gegenwärtig. Neue Typologien im Schul- und Wohnungsbau, wie die Pimlico School von Bancroft oder der Cluster Block von Lasdun, wurden erprobt. Es entstand eine Bandbreite und Fülle, die es sich lohnt wieder aufzugreifen und zu entdecken. Diese Eigenschaften und Qualitäten müssen wir in den Diskussionen wieder herausarbeiten.

CJG: Wollten Sie auch die Losung ‚Erhaltung vor Abriss’ befördern?

FD: Es ging uns nicht um einen Freischein oder einen Status von Artenschutz für den Brutalismus auf unserer Tagung zu erwirken. Wir sind noch ganz am Anfang der Diskussion. In erster Linie galt es sich dem Kontext der damaligen Zeit zu widmen, um ein Verständnis zu fördern, worum es eigentlich geht und handelt. Nun müssen wir den Prozess stetig begleiten bzw. vorantreiben und zu Kriterien einer Denkmalpflegetheorie für die Sechziger Jahre Architektur gelangen, weil bereits erhaltenswerte Gebäude, trotz Denkmalschutz, aus wirtschaftlichen Erwägungen aus unserem Stadtbild verschwunden sind. Was ist uns unser baukulturelles Erbe wert? Diese Architektur ist auch ein Teil unseres kollektiven Gedächtnisses, ein Teil unserer Identität!

CJG: Der Untertitel Ihrer Tagung sieht den Brutalismus auch in Verbindung zur Poesie. Das mag für manchen harter Tobak sein, denn die schroffe und monolithisch wirkende Architektur scheint gerade das Gegenteil von spielerischer Leichtigkeit, Unbestimmtheit und einem ephemeren Fluktuieren zu sein, dass der Poesie gemeinhin zu Eigen ist. Könnten sie kurz erläutern, wie sich diese Gegensätze vermittelt lassen bzw. wie es zu ihnen gekommen ist?

FD: In der legendären Independent Group wurde in der künstlerischen Auseinandersetzung und in ihrer individuellen Verarbeitung auf eine neue Konsumgesellschaft reagiert und den Alltag als Thema für sich entdeckt – Everyday statt High Culture. Zum einen ist es gerade der Reiz am Gewöhnlichen, am Einfachen, zum anderen die Faszination an der Komplexität der fortschreitenden Technisierung und Automation. Dies ist in ihren Collagen, Skulpturen oder Installationen, vgl. Patio and Pavilion von 1954, stets Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis. Die Poesie tritt dann in Erscheinung, wenn die Objekte aus ihrem Kontext herausgelöst und neu zusammengesetzt werden, um damit Assoziationen und ihren Subtext freizulegen. Auf der Ebene der Architektur geschieht das im Sinne des „as found“, in der Verwendung des rohen/robusten Materials, seiner einfachen Verarbeitung (dirty detailing), der Kombination aus Massenprodukt und Einzelanfertigung und einer gewissen Trotzigkeit durch die plastische, fast schon zeichenhafte, Kubatur. Insofern fällt auf, dass sich die Brutalisten mit ihren massiv anmutenden Bauten deutlich von den gläsernen, sich in Auflösung befindlichen Wohnmaschinen der klassischen Moderne entgegensetzen. Ein anderes Raumgefühl und Bezugssystem stand zur Disposition: die Aneignung durch den Bewohner und dessen soziales Netzwerk. Dies mag u.a. auch auf die Kriegstraumata und auf die Zeit im Bunker der jeweiligen Architekten zurückzuführen sein. Beatriz Colomina hat dies zum Beispiel in ihrem Vortrag sehr schön für die Mitglieder der Independent Group herausgearbeitet. Es wird später Hermann Hertzberger in der Weiterentwicklung im Strukturalismus sein, der die Qualitäten der rohen Materialien mit dem Aspekt der Partizipation, mit der Veredelung durch den Bewohner, bewerkstelligt – Poesie durch Sinnlichkeit und Aneignung. Diese Poesie ist in der Spätmoderne eines Bauwirtschaftsfunktionalismus leider abhanden gekommen.

CJG: Der Brutalismus war im Nachkriegs-Großbritannien eng verbunden mit sozialen Themen. Nicht umsonst stellte Reyner Banham im Untertitel seines Buches die Frage ‚Ethik oder Ästhetik‘?

FD: In Großbritannien wartete auf die damaligen jungen Architekten in der Nachkriegszeit ein gewaltiges Bauprogramm an Schulen und vor allem an Wohnungen. Deshalb ist auch der Brutalismus in der Wiederaufbauzeit hier sehr stark an Bauten vertreten. In den ersten Jahren nach dem Krieg verfiel die Siegermacht in eine gewisse Depression. Das Festival of Britain 1951 sollte der ganzen Nation neue Hoffnung und eine positive Zukunftsvision vermitteln. Vor dem Krieg war die moderne Architektur in Großbritannien nur vereinzelt durchgedrungen, was sich dann danach rapide verändern sollte. Anfangs noch am skandinavischen Modell, einer vom sozialistischen Wohlfahrtsstaat geprägten Architektur, einer gemäßigten Moderne orientiert, wendet sich der Brutalismus gegen die pittoresken Anleihen der benachbarten Inselgruppen. Für eine neue Gesellschaft bedarf es einer zeitgemäßen und ehrlichen Architektur mit geistiger Grundhaltung. In dieser Verantwortung sah sich der Brutalismus, indem er die moralischen Imperative der Moderne wiederzubeleben versuchte. Banhams Untertitel weist bereits 1966 in gewissem Sinne schon prophetisch auf das spätere Dilemma, in welche Richtung sich der Brutalismus entwickeln wird: mit seiner Reduktion auf die reine Materialoberflächenbeschaffenheit.

CJG: In den letzten Jahren findet eine zunehmende Rezeption brutalististischer Ansätze statt. Kann man gar von einem Neobrutalismus reden und wenn ja, gibt es diesen nur bei den Experten oder auch in der Bevölkerung? Wer sind die Protagonisten dieser Rezeption und aus welchen Ländern stammen sie?

FD: Einige Aspekte fanden in den Achtziger Jahren im Dirty Realism um Venturi/Scott Brown (Learning from Brutalism) oder auch um Rem Koolhaas in der Architektur- und Städtebaudiskussion, u.a. zum Urban Sprawl, ihre Wiederentdeckung. Es ist viel mehr jene Architektengeneration in Großbritannien, wie Sergison Bates oder Caruso St John, oder beispielsweise in der Schweiz, von Ballmoos Krucker Architekten, die in einer sehr individuellen Aneignung, wie dem Alltagsthema und einer Sensibilität dem Material gegenüber, eine gewisse Parallelität und Verbundenheit zum Brutalismus aufweisen. Aber deshalb würden sie sich noch lange nicht als Brutalisten bezeichnen. Sie arbeiten aus einem anderen Kontext heraus, versuchen dabei verloren gegangene Motive der modernen Architektur zu reformulieren.

CJG: Ein brutalistisches Charakteristikum ist das Streben nach Authentizität über die möglichst unbehandelten, schroffen und rauen Oberflächen der Materialien. Ist diese Form der Ehrlichkeit weiter und elementarer gefasst als eine bloße Reproduktion der baulichen Vergangenheit, etwa im Neorationalismus heutiger Tage? Strebt der (Neo-) Brutalismus also nach quasi natürlichen Wurzeln, die sich in einer sinnlichen Beziehung von Mensch und Umwelt äußern?

FD: In der Tat muss die Frage nach Authentizität hier weiter gefasst werden. Dahinter verbirgt sich auch ein gesellschaftlicher Anspruch jener kriegstraumatisierten Generation nach der Suche nach Wahrhaftigkeit, die sich in ihrer sozialen und politischen Verantwortung, in der Aneignung des Alltags, der Konstruktionsehrlichkeit und auch in der sinnlichen Wahrnehmung wiederfindet. Mit den „Human Associations“ von Mensch, Straße, Bezirk und Stadt stellte das Team 10 mit seiner Kritik an der funktionellen Stadt und ihrer Trennung in Sektionen von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr ein neues Bezugssystem entgegen: Der Mensch und seine Umwelt.

CJG: Herr Dreher, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch!

Erschienen: Deutsche BauZeitschrift

Links/Literatur:

_Brutalismus-Seite zur Konferenz der „Wüstenrot Stiftung“ und des „Karlsruher Institut für Technologie“ (KIT)

_Filmdokumentation „Utopia London“ von Tom Cordell

_Banham, Reyner: Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik?; Stuttgart/Bern 1966 [engl. 1955]

_(engl.) Webster, Helena (Hrsg.): Smithson, Alison: Modernism without rhetoric. Essay on the work of Alison and Peter Smithson; London 1997

_(engl.) Risselada, Max (Hrsg.): Alison & Peter Smithson. A Critical Anthology; Barcelona 2011