Moholy-Nagy und der Sinnenfall der Moderne …

By cjg on 26. März 2016 — 3 mins read

Über die moderne Großstadt ist oft nachgedacht worden; zum Beispiel vor rund 100 Jahren in Deutschland, als viele Landsleute aus ländlichen Regionen versuchten, ihren Platz darin zu finden und zu behaupten. Der Soziologe Georg Simmel (1858-1918) unterscheidet z.B. 1903 in seinem berühmten Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ die „Steigerung des Nervenlebens“, die der rasche Wechsel von Eindrücken hinterlässt vom ruhigen und gleichmäßig fließenden Rhythmus des kleinstädtischen und ländlichen Lebens. Der hektischen Großstadt weist er diesbezüglich einen intellektualistischen Menschentypus zu und ihrem idyllischen Gegenteil eine gemüts- und gefühlsmäßig gestimmte Bewohnerschaft.

Die europäischen Avantgarden der Moderne konnten damals gar nicht genug bekommen von der neuen Zeit. Sie setzten sich intensiv mit dem auseinander, was Simmel „Steigerung des Nervenlebens“ nannte. Manche mochten sich freilich nicht damit begnügen, dabei im Dualismus Rationalität vs. Sinnlichkeit zu verbleiben und suchten eine Synthese. Das jedenfalls ist die Erkenntnis, die ein Besucher bekommen wird, wenn er durch die neue Ausstellung im Berliner Bauhaus Archiv „Sensing the Future: Moholy-Nagy, die Medien und die Künste“ geht.

Noch bis zum 12. Januar nächsten Jahres ist Zeit, sich ein Bild der vielschichtigen Arbeit des László Moholy-Nagy (1895–1946) zu machen und dabei dem beharrlich entwickelten Erzählstrang des kanadischen Kurators Oliver A. I. Botar zu folgen. Es geht dem Ausstellungsmacher sicher darum, den Weitblick und die Innovationskraft Moholy-Nagys in Bezug auf die damaligen neuen Medien (Fotogramme, Film, Telefon, Ton- und Klangaufnahmen, Projektionen) zu zeigen. Aber das ist nicht alles, denn die Erinnerung daran, dass der ungarische Bauhaus-Lehrer das Gespür und die Empfindungen des menschlichen Körpers nicht im Gegensatz zur neuen Zeit lassen wollte, sondern die Avantgardekunst quasi als Verlängerung und Potenzierung der menschlichen Sinne ansah, ist ein wirklicher Wissensgewinn dieser Ausstellung.

Moholy-Nagy begriff seine Arbeit als „ästhetische Beziehung“ zur neuen Umwelt und wollte nicht zuletzt Hilfestellungen zu einem Leben darin geben. Die Spuren hierzu legt er auch textlich offen, so z.B. in seinem Buch „Von Material zu Architektur“ von 1929. Nachdem er in Bezug auf die Lehre zunächst die Entfremdung vom ursprünglichen Leben in der Moderne konstatiert und das erlernte Wissen als äußerlich und vergewaltigend ansieht, fordert er ein Umdenken und „[…] den weg zu allseitigen eigenen erlebnissen, die aufgrund gesunder funktionen möglich, ja vom biologischen zentrum her erforderlich sind.“

Das scheint zunächst einmal im Widerspruch zum rationalen und ein wenig distanzierten Image zu stehen, das die Bauhausmoderne bis heute umgibt. Die Abstraktion von Formen und Strukturen als metaphysisches Charakteristikum jener Zeit (z.B. sozial = klar + übersichtlich + rational) sah sich nämlich z.B. im „Dada“ einem dezidierten Widerstand gegenüber, der das Medium selbst in den Mittelpunkt stellt und nicht mehr dessen Dienst im Sinne einer Aussage. Das Holz ist also nicht mehr Mittel zum Zweck, eine Statue herzustellen, die Farbe nicht mehr Mittel zum Zweck, ein Bild zu erschaffen, der Ton nicht mehr Mittel zum Zweck, eine Komposition zu bilden. Das Material bzw. Medium genügt sich vielmehr selbst und gibt dem Menschen eine Möglichkeit zum direkten Anschluss an ein neues Kunstverständnis. In diesem Sinne arbeitete auch László Moholy-Nagy und es ist in der Berliner Ausstellung gut gelungen, ein zeitgemäßes museumsdidaktisches Konzept mit dem Thema zu verbinden und die Besucher entsprechend fühlen, hören, sehen und sogar riechen zu lassen.

Man spürt der Schau ebenfalls die Lust am Thema und auch den Willen an, die Aktualität des Bauhaus-Lehrers zu würdigen. So finden sich Verknüpfungen mit dem Paradigma der Performativität, sprich Einbindung und Aktivierung des Menschen und es werden zahlreiche Vorläuferexperimente der Medienkunst thematisiert. Diesbezüglich selten zu sehen sind das „Lichtrequisit“ (auch bekannt als Licht-Raum-Modulator) im lichtmalerischen Einsatz oder der Entwurf (nach historischer Planlage und auch als 3D Animation) für ein Totaltheater von 1927. Die Integration der Arbeiten vornehmlich junger kanadischer Künstler, die sich mit Moholy-Nagy auseinandersetzten, rundet nicht nur die Schau ab, sondern unterstreicht so manches Mal den Eindruck der Zeitgenossenschaft des 1946 gestorbenen Universalkünstlers und Pädagogen.

Erschienen: Faust-Kultur