Nietzsches Handdenken: Von Zwecken und Mitteln …

By cjg on 11. Januar 2016 — 3 mins read

Ende Februar versammelten sich in Berlin einige berufene Geister, um ein neues Kapitel in der Nietzsche-Forschung vorzustellen und zu diskutieren. Mit Volker Panzer als Moderator trafen sich die Mitherausgeberin der neuen Abteilung, Marie-Luise Haase, die beiden Philosophen Ludger Lütkehaus sowie Rüdiger Safranski und Henning Ritter von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“…

Die Geschichte der Manipulation Nietzsches scheint sich mit der vorgestellten Abteilung ihrem Ende zuzuneigen. Nach dem Zusammenbruch des Philosophen 1888 wurde der Dahinsiechende bis zu seinem Tod 1900 durch sein „liebes Lama“, Elisabeth Förster-Nietzsche, gepflegt. Zu dieser Pflege gehörte freilich auch die Inanspruchnahme und geistige Verwertung durch die Schwester, an deren Ende der „Wille zur Macht“ stand. Der „Wille zur Macht“ als das vermeintliche Hauptwerk des Philosophen gilt spätestens seit 1967, dem Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe von Giorgio Coffi und Mazzino Montinari, als das Symbol der Fälschung Nietzsches. Die Herausgeber der neuen Abteilung begannen daher mit Nietzsches handschriftlichem Nachlass von 1885 bis 1888 und zeigen auf diese Weise, dass aus diesen Textstücken kein irgendwie gearteter Wille, geschweige denn einer zur Macht, zu erkennen ist.

Mit der Souveränität einer Fachfrau, die seit 20 Jahren jeden Zettel Nietzsches x-mal umdreht, stellte Marie-Luise Haase ihre Arbeit vor. Die Zurückhaltung der Herausgeberin fiel in der weiteren Diskussion genauso auf wie das Umschiffen der Frage, was die neue Abteilung noch mit der großen Ausgabe Collis und Montinaris zu tun hat. Die nun vorliegende differenzierte Transkription des handschriflichen Nachlasses von 1885 bis 1888 mit vier verschiedenen Tinten, drei Stiftarten und fünf Schrifttypen unter Beibehaltung jedes Striches und jedes noch so obskuren Wortfetzens ist ein klarer Bruch mit dem chronologischen und auf Kommentarbände angewiesenen Aufbau der Kritischen Gesamtausgabe. Die berühmt-berüchtigte Totenruhe und Mutmaßungen über die posthumen Wünsche und Vorstellungen Nietzsches griffen in der beginnenden Debatte Raum.

Man einigte sich schließlich darauf dass der bärtige Philosoph stets auf das Werk und die Botschaft ausgerichtet gewesen sei und es bestimmt nicht gut heißen würde, sich in die so fragmentierten Karten sehen zu lassen. Hier stellt sich freilich die Frage, warum es denn überhaupt ein Widerspruch zum Pathos und Heroismus in Nietzsches Werk sein sollte, dass er im intellektuellen Entwurfsprozess seine Gedanken so lange schliff und feilte, bis sie die gewünschte Schärfe hatten. Warum soll bei Nietzsche der Denk- und Schöpfungsvorgang so besonders sein? Findet man denn nicht Späne in jeder Werkstatt, in der gehobelt wird? Hier werden wir den Eindruck nicht los, dass die Form über den Inhalt steigt und das schön schiefe, viertintige, dreistiftige und fünfschriftige Bild des Textes den Text selbst verschwinden lässt. Vielleicht erzeugt der Fleiß der Editoren und ihr Wille zur Authentizität ein Eigenleben, dass sich seinen Platz nimmt (sic!) und wie ein neuer Bedeutungsnebel aus den Nachlassheften emporsteigt.

So viel Interpretationsraum hätte man vielleicht damit fassen können, dass die entsprechenden Facsimilia denTranskriptionen jeweils direkt gegenüberstehen und nicht erst auf der beigelegten CD-ROM gesucht werden müssen. Visuell haben wir den Eindruck, dass Nietzsche mit Gedankensplittern arbeitet, die sich zueinander verhalten und durchdringen oder überlagern. Er streicht Texte, manchmal doppelt, fügt andere wieder hinzu. Aber was ändert dieses an den Gedanken selbst? Hierzu fragte Henning Ritter, woher wir denn wissen wollten, warum Nietzsche die Streichungen ganzer Seiten vornahm. Vielleicht waren die Textstücke schon verbaut und sie wurden abgehakt oder der Autor wollte nichts mehr vom Geschriebenen wissen. Wer kann das mit Bestimmtheit sagen? Könnte es gelingen, Nietzsche durch die simultane Darstellung der Haupt- und Subtexte auf die gedankliche Spur zu kommen und seine inhaltlichen Verknüpfungen und Denkbahnen aufzeigen? Könnte man also Rüdiger Safranski zustimmen und über die niedergeschriebene Form der Gedanken Rückschlüsse auf Nietzsches Denken selbst ziehen? Es scheint, dass das Mittel hier zum Zweck wird.

Die neue Abteilung hat die primäre Aufgabe, die Fälschungsgeschichte zu beenden. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche muss philosophisch geführt werden und nicht philologisch, meinte der stets druckreif sprechende Ludger Lütkehaus. Auseinandersetzung mit den Texten und Gedanken Nietzsches, ohne den Mythos vom einsamen Denker Zarathustra aus Sils Maria weiterzuführen, wie Rüdiger Schmidt in seinem jüngsten Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb. Wie ist es nun aber mit diesem Mythos? Wird er nicht gerade dadurch weiterbefördert, dass es anstelle des einsamen Alpen-Heroen nun den Zersplitterten gibt, der trotz aller inneren Kämpfe den Weg zu Botschaft und Werk fand? Wird der Nietzscheanische Mythos also durch „die von der Alltäglichkeit und Mühsal der Niederschrift befreiten Texte“ (Rüdiger Schmidt) transportiert oder ist nicht genau das Gegenteil der Fall?

Erschienen: Information Philosophie 2/02