Operativer Fähigkeitenverlust im Deutschen Heer?

By cjg on 24. Juni 2019 — 6 mins read

Vor rund fünf Jahren machte Siegfried Lautsch mit dem Buch „Kriegsschauplatz Deutschland: Erfahrungen und Erkenntnisse eines NVA-Offiziers“ auf sich aufmerksam. Er schloss seinerzeit eine Lücke im Wissen über die Einsatzplanung der Warschauer Pakt-Staaten. Dabei plauderte der Oberst a. D. der Bundeswehr aus dem Nähkästchen, war er doch im Range eines Oberstleutnants der Nationalen Volksarmee ab 1983 vier Jahre lang „Leiter der Abteilung Operativ im Kommando des Militärbezirks V“.

Wiederum auf die 1980er Jahre blickt Lautsch in dem Buch „Grundzüge des operativen Denkens in der NATO“, das in diesem Jahr in der zweiten und erweiterten Auflage bei „Miles“ erschien. 14 Kapitel und 327 Seiten braucht der Autor, um für operatives Denken und Handeln eine Lanze zu brechen und es begrifflich bzw. inhaltlich von Strategie und Taktik zu scheiden. Indirekt entfaltet er auch eine „deutsch-deutsche“ Perspektive zur Geschichte der NATO während des Kalten Krieges.

Stringent verfolgt der Autor sein Credo, wonach operatives Denken Mangelware in der damaligen Bundeswehr gewesen sei. Grundsätzlich berge allein taktischer Fokus die Gefahr, den Soldatenberuf zum „Militärtechniker“ (S. 239) zu entwerten, wogegen eine Brückenfunktion zu Strategie und Staatspolitik eine „ethisch-moralische Dimension des Soldatenberufs“ (Ebd.) eröffne.

Prominente Unterstützer dieses Ansatzes bekommen entsprechenden Raum im Buch, so der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Hans-Henning von Sandrart (1933-2013). Verdienstvoll hier, dass dessen „Leitlinie für die operative Führung von Landstreitkräften in Mitteleuropa“ aus dem Jahre 1987 in Gänze abgedruckt ist. Auch General a. D. Helge Hansen (*1936) betont im Geleit „zwingende Gründe, sich nicht weiter dem operativen Denken zu verschließen.“ (S. 6) Er macht den allmählichen Fähigkeitenverlust in der Bundeswehr daran fest, dass seinerzeit nationale Korps in ihren Gefechtsstreifen wie taktische Elemente eingesetzt wurden.

Freilich könnte man von heute gesehen auf die Idee kommen, dass Strategie ohnehin in die NATO-Führungsetage ausgelagert ist und die entsprechende operative Aktivität eines Mitgliedslandes wahrscheinlich nicht gewollt. Lautsch würde hier wahrscheinlich widersprechen, denn an diesem Punkt macht sich sein zweites Credo fest: die notwendige weitere Intensivierung der Integration in eine multinationale Sicherheitsstruktur und damit verbunden, operatives Denken als Amalgam, das unterschiedliche Bündnispartner einen könne.

Er entfaltet diese Meinung am historischen Beispiel, so seien in der „Heeresdienstvorschrift 100/100“ von 1997 und auch in der „Anweisung für Führung und Einsatz“ von 1984 keine scharfen Definitionen dessen zu finden, was Operation bedeute. Der Rückgriff auf NATO-Doktrinen brächte kaum mehr Klarheit. Die US-Amerikanische Vorschrift „FM 100-5“ hingegen definiere das Arbeitsfeld gut, sei aber während des kalten Krieges nicht bindend gewesen.

In dieses Horn stößt Lautsch intensiv, konstatiert nach gründlicher Anlayse der Verteidigungskonzepte seines ehemaligen Feindes, dass „[a]ngesichts der Vielfalt der Eigeninteressen der NATO-Mitglieder [die Gefahr bestand, CJG], dass die beabsichtigte Vorneverteidigung politisch und militärisch verloren gehen würde […]“ (S. 128). Auch General a. D. Hansen lässt der Autor in Form eines Briefes diesbezüglich zu Wort kommen. So habe es „mangelnde Synchronisierung der taktischen Planungen der nationalen Korps zu einer kohärenten operativen Planung auf Heeresgruppenebene und gegebenenfalls der strategischen Ebene im Hauptquartier der Streitkräfte Mitteleuropa […]“ (S. 130) gegeben.

Augenscheinlich korrespondiert die militärische Sozialisation des NVA-Stabsoffiziers in der supranationalen Warschauer Pakt-Armee mit den geforderten weiteren Vereinheitlichungs-Tendenzen des noch existierenden westlichen Pendants: „Ein Bündnis souveräner Staaten mit individuellem Profil, lebhaften Eigeninteressen und jeweils unterschiedlicher militärischer Kultur kennt nicht die Harmonie eines wohltemperierten Orchesters mit einem stockschwingenden Dirigenten.“ (S. 130) Vor dort ist es nicht mehr weit zum Irrtum, „[…] kulturelle Identität oder auch unterschiedliches historisches, politisches und soziales Führungsverhalten einander anzugleichen […]“ (S. 218). Lautsch schießt hier weit über den militärischen Horizont hinaus und unterscheidet offenbar ein Imperium nicht von einem Bündnis freier Nationen.

Womit wir auch schon mitten im Ergänzungskapitel zwölf „Entwicklungstendenzen des operativen Denkens“ sind, in dem der Autor sich an der Gegenwart und Zukunft versucht. Europa sei „nirgendwo so Realität geworden wie bei den Soldaten der NATO“ (S. 217). Eine solche multinationale Sicherheitsstruktur wäre nicht ersetzbar in der globalisierten Welt. Und angesichts des Einsatzes nichtmilitärischer, asymmetrischer (hybrider) Mittel und vor dem Hintergrund zunehmender Teil- oder vollautomatisierter Kampfsysteme sowie künstlicher Intelligenz müsse sich „ein operatives Minimum“ (S. 219) im transatlantischen Bündnis spiegeln. Aufgaben wären z. B. die Unterscheidung zwischen kontinental ‚operativ-taktisch‘ und global ‚operativ-logistisch‘ umzusetzen, streitkräftegemeinsam und in den Bahnen der vernetzten Sicherheit zu agieren sowie zivile Organisationen einzubinden. Stäbe seien multinational zu besetzen und Doktrinen zu vereinheitlichen – bis hinunter in die taktische Ebene.

Doch zurück zum ersten Credo: die Bundeswehr bzw. das Heer dachte (und denkt) nicht operativ. Was soll das heißen bzw. welche Aufgaben sieht Lautsch erfüllt und welche nicht? Zum Verständnis ordnet der Autor zunächst eine Reihe Begriffe zu: „Durch Strategie können nationale und bündnisweite politische Ziele mit geringstmöglichen Kosten an Menschenleben und Sachwerten erreicht werden. Die operative Kunst setzt diese Zielsetzungen in wirkungsvolle militärische Operationen und Feldzüge um. Mit einer klugen Taktik können Schlachten und Gefechte gewonnen werden.“ (S. 94)

Ein Bundeswehr-Mangel ließe sich demnach in der Fähigkeit finden, wirkungsvolle Feldzüge zu führen, die strategische Ziele exekutieren. Wie die operative Ebene sich entfaltet, führt der Autor anhand eines Schaubildes (S. 134) mit den Feldern „Denken, Planen und Handeln“ aus. Unabdingbar sei geistige Freiheit, Wille zum Handeln und Beweglichkeit bei der Lösungssuche. Operativ zu denken bedeute, sich der strategischen Bezugsrahmen klar zu sein, in Diskussionen um Ursachen und Motive zu gehen und das Dreigespann „Quellen, Analyse, Bewertung“ zu praktizieren. Operatives Planen hingegen überführe die Bewertungen in den Ernstfall, sorge für Alarmierung, Mobilmachung, Aufmarsch, erkenne Fähigkeitslücken und übe mittels Aufgaben für Frieden und Krieg. Zu guter Letzt setze das operative Handeln die Planung in die Tat um. Es steuere und werte die Erfahrungen aus und schließe mit gezogenen Konsequenzen wieder den Kreis zum operativen Denken.

Lautsch hat einen angenehmen Schreibstil und schafft es zudem, durchaus komplexe Zusammenhänge verstehbar auf den Punkt zu bringen – ein eindeutiges Plus an diesem Buch. Nach der Lektüre stellt sich allerdings die Frage, für welche Leserschaft es geeignet ist. Der Autor wiederholt viele Grundlagen, so z. B. ausführlich den Deutschen Führungsprozess oder Kriegs-, Operations- und Gefechtsartenarten.

Auch das Ausblick-Kapitel Nr. 12, immerhin Hauptargument für die zweite Auflage, birgt für Fachleute wenig Neues, denn „joint und combined, multinational“ unter Berücksichtigung von „hybride warefare“ und im Geiste des „comprehensive approach“ beschreiben bekannte NATO-Konzepte. Ebenfalls werden die Digitalisierung der Bundeswehr, hybride Kriegsformen oder die Bedeutung des Informationsraumes seit geraumer Zeit in entsprechenden Kommandoebenen ventiliert. Lautschs Plädoyer für eine NATO, die offenbar wie der ehemalige Warschauer Pakt mit einem „stockschwingenden Dirigenten“ funktionieren soll, ist vielleicht militärisch nachvollziehbar, aber politisch mit der Selbstständigkeit freier Staaten und Völker nicht zu vereinbaren.

Dennoch ist das Buch lesenswert, denn eine Auffrischung von Grundsätzen kann auch Fachmännern, die hauptsächlich im Friedensgrundbetrieb arbeiten, nicht schaden. Auch für interessierte Laien und jüngere Offiziere ist eine gut lesbare Grundsatzdarstellung im Themenfeld „Strategie, Operation, Taktik“ allemal wertvoll, um das Verständnis für militärisches Führen zu stärken. Es mag sein, dass Lautschs These des Mangels an operativem Denken in der Bundeswehr stimmt. Schön wäre, es ergäbe sich eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen; dazu rufen Verlag und Autor jedenfalls dezidiert auf.

Erschienen: Das Schwarze Barett, Nr. 60, S. 78 (gekürzte Fassung)