Physiologie und Stil. Architektur und Nietzsche …

By cjg on 10. Januar 2016 — 3 mins read

Friedrich Nietzsches Denken auf die Entwicklung des Bauens anzuwenden, ist ein fruchtbares Thema für Brückenschläge zwischen den Disziplinen der Philosophie und der Architektur. Nachdem Tilmann Buddensieg 1994
eine Weimarer Tagung hierzu anregte, ist Schritt für Schritt eine Auseinandersetzung in Gang gekommen, deren jüngste Ergebnisse nun vorliegen. Der Berliner Professor für Architekturtheorie, Fritz Neumeyer präsentiert, wie kurz zuvor schon sein ehemaliger Doktorand Markus Breitschmid, eine Abhandlung, in der versucht wird,
Nietzsches „baumetaphernreiche“ Sprache in architekturtheoretisch relevante Münze zu prägen…
Im Kern vertreten beide Autoren ähnliche Ansätze, ihre Konstruktionen jedoch sind verschieden. Neumeyer erzeugt über Briefwechsel, Exzerpte, Leihverzeichnisse von Bibliotheken ein detektivisch gründlich recherchiertes und chronologisch organisiertes Beziehungsgeflecht und bringt auf diese Weise dem Leser die Wandlungen in Nietzsches Denken nahe. Breitschmid hingegen hält sich bevorzugt bei den Schriften des Philosophen selbst auf und verzichtet auf großflächige Vernetzungen. Er erliegt dabei allerdings mehr als einmal der Versuchung, zwischen zu Lebzeiten veröffentlichten Texten des Frühwerks und späten Nachlaß-Fragmenten des Philosophen nach Belieben zu wechseln, und seine Ankündigung, alle relevanten Textstellen zu Nietzsches Bauphilosophie im Schlußteil der Arbeit als Textkorpus aufzuführen, zieht Fragen nach deren Auswahlkriterien und über die Relevanz des umfangreichen Briefwechsels nach sich.

Ausgangspunkt beider Autoren ist das Gegensatzpaar „dionysisch/apollinisch“ des jungen Philosophen und seine damit zusammenhängende „ästhetische Rechtfertigung“ des Lebens. In Neumeyers Argumentationskette steht das überschäumend ekstatische Denken des frühen Nietzsche in enger Verbindung mit den Personen Richard Wagner und Gottfried Semper während nach der Abkehr von der Musik und dem Dionysischen die Affinität vor allem zu Jacob Burckhardt und zur italienischen Renaissance-Arch itektur einem maßvollen und ausgeglichenen Philosophieren Platz macht.

Dieses apollinische Maß besteht für beide Autoren allerdings nicht im „ sokratischen Moralismus“ oder im „vernünftigen Telos“ eines rationalisierten Bauens. Breitschmid deutet bei Nietzsches gewandelter Einstellung zur Architektur die Erkenntnis eines „Willens zur Macht“, der das Fremde zu bezwingen als Entzücken erlebt und der „das Feste der Form als Ziel“ hat. In dieser Deutung „tritt das Bauwerk dem Leben rigide entgegen“ und wird „als Zeichen von Macht“ der dionysischen Natur entgegengehalten. Baukunst funktioniere so als eine Art Wirkungsspeicher des „ewig und zeitlos Naturnotwendigen“ und das „Wesen der lebendigen Erscheinung“ würde sich durch die „Gestaltung ihrer Grenzflächen erschöpfen“.

Neumeyer erkennt im denkerischen Rückgriff Nietzsches auf die Zeit vor Sokrates den Schlüssel zu dessen Architekturverständnis. In der Behandlung des Textes „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ wird das besonders deutlich. Hier sieht der Autor das Dionysische als eine Art „vor-bewußte und vor-architektonische“ Matrix. Das Paradox von „beweglichen und fließenden Fundamenten“ oder von Bauten, die aus „Spinnenfäden“ sein müssen, um „Wellen und Wind begegnen zu können“, wird als der „Bodensatz der Konditionen der Menschheit“ gesehen. Das „flüssige Element bewegter Materie“, auf dem das geistige Bauen beginnen kann, liegt also der originär apolllnischen Sicht „starrer Regelmäßigkeiten der Begriffe“ zu Grunde. Der verfestigten Form aller Architektur wird auf diese Weise eine imaginäre Bewegtheit und Befähigung zur Ausstrahlung zugebilligt.

Breitschmid wie Neumeyer schlagen in der Folge Beziehungsbögen von der Vorsokratik zur „Physiologie“ des späten Nietzsche. (Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zollte auch der bärtige Philosoph der Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit Tribut, indem er versuchte, über eine Materialisierung des Sinnlichen die endgültige Abschaffung der übersinnlichen Ebene zu befördern.)

Während beide Autoren davon ausgehen, dass das Sinnliche als das Menschliche passiv/empfangend/deutend und aktiv/ausstrahlend/gestaltend gleichermaßen funktionieren, präzisiert Neumeyer Nietzsches „monolithisch-monologische“ Ewigkeitserfahrungen unter mediterraner Sonne. Empfindungen, die den Menschen aus dem „Reich der Notwendigkeit und des Wollenden heraus ins Reich der Freiheit“ geleiten und ihm dabei ein „höchstes Gefühl von Sicherheit und Macht im Sein“ ermöglichen, kommen der Passivseite zu, während diejenigen Menschen, deren Bauten diese Aura erzeugen, als herrschende und gestaltende „Wille-zur-Macht“ -Exemplare aus der gleichen proto-metaphysischen Naturmatrix eines „großen Stils“ schöpfen. Das Monumentale ist demnach überhistorisch, weil es „weder Vergangenheits- noch Augenblicksbezug“ hat – es will nur wirken. Nietzsches Architekturtheorie sei also über die Möglichkeit der Ausbreitung einer Willenssphäre im Raum zu begreifen.

Erschienen: Der Architekt 9/02