Raum als musikalisches Material …

By cjg on 15. Januar 2016 — 3 mins read

Wenn ein Mensch alle Sinne beisammen hat, kann er sehen, schmecken, fühlen, hören und riechen. Welche Empfindungsebene ist dabei wohl die Dominanteste? Die Augen kann man schließen, Berührungen unterlassen,
die Nase und den Mund zuhalten. Nur das Hören kann der -unversehrte- Mensch niemals unterlassen. Was liegt also näher, dem Hören auch die Möglichkeit der Gestaltung von Raum zuzudenken oder gar den Menschen
mit seinem gesamten Körper in gestaltender Wechselwirkung zu sehen mit Klang und Raum?

Ein neues Buch will wissenschaftliche, künstlerische und kulturelle Grundsatzarbeit leisten in diesem Themenfeld. Auf rund 300 Seiten ist das eher spärlich bebilderte Werk das erste aus einer Reihe, deren zwei Folgebände bereits in Vorbereitung sind. In den Kapiteln: „Aus der Geschichte“, „Methodische Zugänge“ und „Desiderate der Praxis“ entfalten sich Essays von Klangkünstlern, Komponisten, Musikern, Kultur- und Musikwissenschaftlern, Philosophen, Medientheoretikern, Journalisten und Physikern.

Für Architekten ermöglicht diese Interdisziplinarität eine Vielzahl von Perspektiven auf Raum und Klang – also die Bedingungen ihres Handelns. Holger Schulze ist der Herausgeber des Buches. Er ist kein Unbekannter in diesem Themengebiet. So stammen vom Leiter des Studiengangs „Sound Studies“ an der Universität der Künste, Berlin unter anderem die Titel: „Der Raumkörperklang. Eine Anthropologie des Mit“ (Wien-Bozen 2007), „Wissensformen des Klangs. Zum Erfahrungswissen in einer historischen Anthropologie des Klangs“( Laaber 2007) oder „Hypercorporealismus. Eine Wissenschaftsgeschichte des körperlichen Schalls“ (Berlin 2007).

Schon die Einleitung in „Sound Studies“ liest sich wie der Erfahrungsbericht eines heutigen Großstadtbewohners:„…Am Rande der Stadt oder mittendrinn. Die Elektrizität, die gerne grell leuchtet, dröhnt und surrt und brummt. Elektromechanik, rattert und prallt, die Glasscheiben erzittern – ganze Zitadellen aus Stahlbeton, verschalt von gläsernen Panzern…Erst knapp hundert Jahre ist es her, ein geschichtlich kaum nennenswerter Moment, seit Menschen die bestimmenden Klänge ihrer Umgebung nachträglich oder im Vorhinein bearbeiten und gestalten können…“

An dieser Stelle sei angemerkt, dass das „Gestalten der Klänge“ hier nicht mit dem Ziel gedacht wird, Schallschutz im technischen Sinne zu betreiben oder über neue Absorbermaterialien, Wandbekleidungen oder Fußbodenbeläge zu referieren. Vielmehr soll die Architektur gesehen werden als „empfindungsbezogene Disziplin“, die als „klingende Gestalt des physischen Raumes“ auftritt. Eine zugehörige Entwurfsarbeit würde den Planungsprozess zur „Einhüllung körperlicher Erfahrungen und Handlungssituationen“ erweitern.

Wenn diese Haltung ernst genommen würde, können Bauwerke nicht mehr als „Gestaltungs-Einbahnstraße“ vom Architekten in Richtung Bauherren entstehen, sondern nur in einer engen Wechselwirkung miteinander und in Bezug auf die künftigen Nutzer. „Aktives Zuhören“ wäre hier eine der entwurflichen Primärtugenden, die sich neben „bewusste Ausübung des Wahrnehmens“ gesellt und auf das „produzierende Mitgestalten“ der Nutzer hinarbeitet.

Dass Räume mit Atmosphären verbunden sind, wussten schon die Bauhaus-Heroen der ersten Stunde, denn nicht zum Scherz verbindet László Moholy-Nagy den damaligen Zeitgeist mit Klang, wenn er eine „neue mechanische Harmonie“ sucht. Weitere Beispiele, den Raum als musikalisches Material zu begreifen, haben Le Corbusier und sein zeitweiliger Mitarbeiter, der Mathematiker, Ingenieur und Komponist, Iannis Xenakis mit dem „Philips-Pavillon“ auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 oder dem Kloster „La Tourette“ hinterlassen.

Die „Sound Studies“ verzichten jedoch auf die Besprechung solcher und weitere Beispiele konkreter Bauwerke und befassen sich über den Begriff der „auditiven Architektur“ lieber mit dem „Entwerfen des Entwerfens“. „Klangumwelt“ zu formen oder erst einmal gemeinsam zu erarbeiten, hieße das neue Betätigungsfeld für „auditive Architekten“. Die Dynamiken, Kontexte, Erwartungen und Vorstellungen, in denen Bauwerke und Menschen sich bewegen, gilt es zu gestalten und dieser Prozess ist weit, weit umfänglicher als ein Anwenden standardisierter Verfahren -etwa zum Schallschutz- oder das kontext- und ortlose Entwerfen am Büroschreibtisch.

Der architektonische Rezipient von „Sound Studies“ sollte sich ein Stück weit erschüttern lassen können, denn ein Einlassen auf die „auditive Architektur“ bedeutet auch ein Abschied nehmen vom entrückten Bau-Expertentum und ein Operieren auf Augenhöhe, wenn es um die akustische Entwurfsarbeit geht, die zusammen mit den Nutzern von Architektur gemacht werden soll.

Das vorliegende Buch ist sehr geeignet für „architektonische Wanderer“, die sich mit dem Raum befassen in einem eher „phänomenologischen“ Sinne. Leser dieses Schlages werden sich bereichern können bei den zahlreichen Exkursen u.a. zur Radiokunst, „Echtzeit-Poesie“, Musikästhetik oder Medientheorie. Ein offenes Denken ist der Schlüssel, um sich in neue Wege zu Klangarchitekturen einlassen zu können und die Definitionsversuche dessen, was Klang für die heutige Baukunst bedeuten kann, aufzunehmen und fruchtbar umzusetzen.

Erschienen: Deutsche Bauzeitschrift-online