Mit dem Begriff „Stadtraumaneignung“ scheint sich derzeit ein großer Horizont abzuzeichnen, auf den verschiedene, gesellschaftliche Aktivitäten zulaufen. Nehmen wir nur die Proteste um das Berliner Großprojekt „Media Spree“ oder noch aktueller die Debatte um den neuen Hauptbahnhof „Stuttgart 21“.
In beiden Beispielen wird deutlich, dass Bewohner mitreden wollen bei der Gestaltung ihrer Lebensräume. Vorbei zu sein scheint also die bequeme Situation der Mächtigen, denn das Volk hat Vorstellungen und – es bringt sie zu Gehör. Möglicherweise schafft es die aktuelle Berliner Ausstellung „Realstadt“, den bislang eher retrospektiven Charakter in Form von Protest gegen das scheinbar Unvermeidliche in einen vorwärtsgewandten Diskurs umzuwandeln. Was dazu nötig wäre, ist eine gemeinsame „Sprache“ zu finden, zwischen Regierenden, Stadtplanern und -bewohnern, Architekten und Künstlern.
Um dieses Finden scheint es dem Kuratorenteam bei seinem „Schauvergnügen des Stadtkurses“ gegangen zu sein, denn die insgesamt 250 Architektur- und Stadtmodelle geraten zu einer Art Kommunikationsmittel.
„Städte sind aus Wünschen gebaut und von Wünschen durchlebt“ heißt es im Leittext der „Realstadt“, die noch bis zum 28. November zu sehen ist. Den Wunsch könnte man auch in unmittelbarer Nähe zur Utopie oder Vision sehen. Interessant ist, dass es hierzu vor kurzem ebenfalls eine Ausstellung gab. „Das ungebaute Berlin“ zeigte nämlich nicht realisierte Projekte zwischen 1907 und 1997 und geriet so ebenfalls zu einer Schau visionärer Kraft.
„Realstadt“ geht freilich einen Schritt weiter, denn hier gibt es nicht nur Utopien und Visionen von Architekten und Stadtplanern zu sehen, sondern auch von Studenten, Bürgerinitiativen oder Einzelpersonen. Mit dem Motto: „…Also ist entscheidend, dass Wünsche verhandelt werden. Im Interesse der Stadt, und in offener Auseinandersetzung…“ scheint die Ausstellung recht nah in den anfangs erwähnten Horizont einer „vorwärtsgewandten Stadtraumaneignung“ zu kommen.
Nicht nur auf dem Weg, sondern mitten drin in diesem Prozess ist das Berliner „raumlabor“, das eines seiner Projekte in der „Realstadt“ ausstellt. Mit der „Eichbaumoper“ sind die Architekten, Künstler und Stadtplaner des Kreativennetzwerks ganz ihrer Vorliebe für schwierige Umfelder gefolgt und übernahmen seinerzeit die künstlerische Leitung dafür, „…einen Ort, der sich allen pragmatischen Zugriffen widersetzt, durch eine Vision zu erlösen…“.
„…Eichbaum muss Oper werden…“ war der Leitgedanke bei der temporären Transformation einer gruseligen U-Bahnstation im Ruhrgebiet. Ganz sicher nicht übertrieben ist es, von einem typischen „Un-Ort“ der 1970er Jahre aus Beton und Verkehrslärm zu sprechen, für den ein Wandlungsprozess durch die Verbindung von Architektur, Theater, Musik und Stadt erreicht werden sollte.
Interessant ist, die ideengeschichtliche Spur von „raumlabor“ zu verfolgen, denn immerhin geht es um ‚Erlösung des Daseins durch Musik – also durch Kunst‘. Wenn der frühe Friedrich Nietzsche von der „Artisten-Metaphysik“ schwärmt, die die Welt als Kunst schafft und die das Dasein erscheinen lässt als „…die ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, Widerspruchreichsten …“ (Nietzsche, Friedrich: Digitale Kritische Gesamtausgabe (eKGWB); GT-Selbstkritik-5), dann fühlt man sich erinnert an das schöpferische und zugleich pragmatische Bestreben von „raumlabor“, die reale Alltags- mit einer ‚überschreitenden‘ Kunstwelt zu verschmelzen.
Bei der „Eichbaumoper“ kam es aber auch darauf an, einen prozessualen Raum zu entfalten. Die schnöde U-Bahnstation diente hier offenbar nur als Art Katalysator, bei dem eingeschliffene Wahrnehmungsströme der Anwohner aufgelöst bzw. wieder in die Bewegung gebracht werden sollten.
Mit einem wahren Feuerwerk an Veranstaltungen wie „Eichbaumdetektor, Zeitungs-AG, Opernbauhütte, Klangraum, öffentlicher Kompositionswerkstatt oder temporärer Kunsthalle“ gelang es, in einer experimentellen wie spielerischen Weise, die Menschen in die gewünschte Interaktion zu bringen.
Hier eignete man sich tatsächlich die Stadt (wieder) an und geriet in den Sog der o.g. „Artisten-Metaphysik“. Wollte Friedrich Nietzsche allerdings einem Wirken jenseits von Gut und Böse die Lanze brechen und für ein bestimmungsloses, künstlerisches Handeln streiten, so ist der Befreiungsschlag heutzutage nicht gegen die Moral per se zu führen, sondern gegen eine obrigkeitsgewöhnte Stadtbaupolitik, die vorgibt, das Beste für Land und Leute zu kennen.
Gerade das Beispiel der lebens- und menschenfeindlichen U-Bahn-Station im Ruhrgebiet zeigt, wie sehr sich das vermeintlich Angemessene, Moderne und Richtige gegen diejenigen wenden kann, für die es doch eigentlich das Heil bringen sollte. Dem Anfangs erwähnten Horizont der „Stadtraumaneignung“ bleibt zu wünschen, dass er blühen und gedeihen möge und neue Planer hervorbringt, die die Menschen sprech- und handlungsfähig machen, damit sie ihre Städte in Teilen wieder selbst in die Hand nehmen.
Erschienen: Deutsche Bauzeitschrift