Stadtentwicklung im Zeichen der Grasnelke …

By cjg on 5. Januar 2016 — 3 mins read

Roßleben ist rund 1100 Jahre alt, aber dennoch die jüngste Stadt Thüringens. Im Jahre 1999 wurden die etwa 6500 Seelen Roßlebens, Schönewerdas und Bottendorfs vereinigt. Zusammen mit zehn anderen
Kommunen erreichten die Nordthüringer den ersten Platz im Wettbewerb zum Stadtumbau Ost…
Die Ausgangslage ist düster, aber nicht hoffnungslos. Nach 1990 brachen 3000 Arbeitsplätze in der Kommune weg. Roßleben hat mit 25-30 % eine der höchsten Arbeitslosenzahlen im Land Thüringen. Probleme wie Bevölkerungsrückgang und Überalterung der Anwohner scheinen hier obligat. Ein Schrumpfen der Einwohnerzahl von durchschnittlich 1,3 % pro Jahr geschah zwischen 1996 und 2001 und eine grundlegende Änderung ist auch künftig nicht zu erwarten.

Frau Dr. Loos vom Weimarer Büro für BauGeschichte und BauGestaltung bearbeitete die Gesamtkonzeption und das Roßlebener Dichterviertel (Blockbau- und Plattenquartier im Norden der Stadt), während Birgit Helk vom gleichnamigen Büro für Architektur- und Stadtplanung aus Mellingen für die Entwicklung des Ortskerns mit Erweiterungen verantwortlich zeichnet.

Ein wichtiger Aspekt des Konzepts ist der hohe Grad der Bürgerbeteiligung sowie die Einbeziehung regionaler Planungsträger, verschiedener Verbände und der Wohnungswirtschaft. Durch ein zähes mehrstufiges Verfahren mit Versammlungen, Fragebögen und etlichen Diskussionsrunden bahnte man sich den Weg, um Roßleben als Standort für Wohnen und Gewerbe nachhaltig zu prägen.

Die Vernetzung der Ortsteile Schönewerda, Bottendorf und Roßleben soll durch den Ausbau der Uferböschung der Unstrut zum Auenpark unterstützt werden. Spazier- und Radwege entlang des Flusses und in die umliegenden Biotope sollen den Aufbau eines sanften Tourismusses in der geschichtsträchtigen Region ermöglichen. Bottendorf wird im Entwicklungskonzept durch die Etablierung kleiner Hotels, Pensionen oder einer Jugendherberge zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen. Der Ortsteil Schönewerda stellt sich homogen dar. Die Planungen umfassen dort im Wesentlichen eine dorfgerechte Sanierung der Bausubstanz und den Anschluss an das Abwassersystem.

Am nördlichen Stadtrand Roßlebens liegt das Block- und Plattenbaugebiet „Dichterviertel“. Die Bedürfnisse der Kali- und Zuckerindustrie ließen zwischen den 50er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Bebauung des Areals mit Wohnungen notwendig werden. Heutzutage zieht der Bewohnerrückgang den Abriß, teilweisen Rück- oder Umbau des Quartiers nach sich. Die Wohnumfeldverbesserung steht dabei im Vordergrund. Einige Blöcke werden saniert, andere abgerissen. Freiwerdende Flächen sollen zur Nachnutzung für innerstädtischen Wohnbau vorgesehen werden, bekommen aber zunächst den Charakter von Grünzonen.

Für alteingesessene Anwohner ist das „Servicewohnen“ vorgesehen. Ausgewählte Blöcke werden hier bis auf zwei Geschosse zurückgebaut. Die Grundrisse sind generell barrierefrei durchgebildet und sollen durch flexible Räume auch individuelle Wohnformen ermöglichen. Die Planung von Gemeinschaftsräumen- bzw. flächen führt dabei zu der Stufung von privaten, halbprivaten und öffentlichen Zonen.

Anwohner im Ortskern Roßlebens zu halten, bestehende Lücken zu schließen und Gebäude-Leerstände zu beenden, ist ein weiteres Ziel der Planer. Die Attraktivität der Innerstadt soll deutlich erhöht werden. Eine stärkere Einbindung der Klosterschule (einer der ältesten Schulen in Deutschland) in die Stadt wird angestrebt. Im Sinne der Erneuerung von Fassaden, Stadtmöblierungen, Straßenbelegen, Grünzonen und Nutzungen von Erdgeschosszonen durch Kleingewerbe ist die Entwicklung dreier signifikanter Plätze im Kernbereich.

Als ‘jüngste’ Stadt Thüringens hat Roßleben noch keine funktionierende Mitte. Zur Profilierung des Zentrums soll die Stadtverwaltung in die ‘alte Schule’ am historischen Kirchplatz umziehen. Das neue Rathaus könnte auf diese Weise mit der Klosterschule korrespondieren und zur Urbanisierung beitragen. Die Umnutzung des Geländes der ehemaligen Zuckerfabrik für Ergänzungsfunktionen zur Innenstadt ist ein weiteres Planungsfeld im Wettbewerbsbeitrag. Die Gebäude sollen, bis auf eine Zuckerlagerhalle, geschliffen werden. Für das Areal gibt es Ideen, die vom Ausstellungsort bis zum Wasserwandern reichen.

Ein bedenklicher Punkt am Roßlebener Projekt ist das gegenseitige ‘Abjagen’ der Einwohner zwischen Dichterviertel und Innenstadt. Wo sollen all die neuen Mieter oder Eigentümer herkommen? Ist es angebracht, sich auf entsprechende positive Vorhersagen zu verlassen? Interessant wäre in diesem Zusammenhang gewesen, sich mit der gegenwärtigen oder künftigen Lücke im Kleinstadtgefüge zu befassen, anstatt darauf zu setzen, den Ortskern auffüllen zu können.

Die Roßlebener konzentrieren sich in ihrem Wettbewerbsbeitrag auf wenige markante Punkte. Diese Politik der kleinen Schritte eröffnet Spielräume für mittel- und langfristige Prozesse. Bürgerbeteiligung steht dabei an vorderster Stelle. Vielleicht wäre es auch für andere Gemeinden ein gutes Modell, den Anwohnern Gebäude zu überlassen, die keine Nutzung bekommen, anstatt entsprechende Brachen in einer utopischen Hoffnung auf Investoren dem sukzessiven Verfall preiszugeben?

Erschienen: Deutsches Architektenblatt 3/03