Mancher Feuilletonleser wurde in letzter Zeit vielleicht auf den Film „The Tree of Life“ aufmerksam, der mit den Hollywoodgrößen Brad Pitt, Sean Penn und Jessica Chastain auch recht prominent besetzt ist. Aber die Stars des Streifens sind in diesem Fall nicht das Interessante, sondern sein Regisseur, der in diesem Fall auch das Drehbuch geschrieben hat. Terrance Malick gilt nämlich als Philosoph und Poet in seiner Branche, deren Medienrummel er sich üblicherweise konsequent entzieht. Und nicht nur das, er hat sich an einer Promotion versucht über Wittgenstein und Heidegger und übersetzte 1969 auch dessen Aufsatz Vom Wesen des Grundes (1929) ins Englische.
Ganz so katholisch hat man „The Tree of Life“ nicht erwartet, denn die Protagonisten des Films stellen eine bibeltreue Kleinfamilie dar, die der Predigt in der Sonntagsmesse lauscht und Tischgebete spricht. Die von Nonnen erzogene Mutter agiert im Gegensatz zu einem Vater, der als Ingenieur für Montantechnologie ein Paradebeispiel des ‚Homo faber‘ ist. Dazwischen drei heranwachsende Söhne, von denen der mittlere verstirbt. Hier der weibliche Weg der Gnade, dort der männliche der Natur. Der Definition der Protagonistin nach steht die Natur dabei für den Kampf, die Strenge und die Eigensucht. Sie selbst symbolisiert Mitleid, Empathie, Verständnis und Trost.
Auf den ersten Blick ein dürftiger wie klischeehafter Handlungsstrang. Nach gut 2 h Laufzeit jedoch, macht nicht nur alles Sinn, sondern es breitet sich eine Art ruhende Fülle oder bergende Weite in einem aus. Wieso das? Weil Terrance Malick versucht, eine katholisch geprägte Familiengeschichte aus den 1950er Jahren parallel zu den ältesten Themen zu denken. Jenen nämlich, die z.B. auch schon dem Vorsokratiker Heraklit auf der Zunge lagen: „So vieler Worte ich gehört habe, keiner kommt so weit zu erkennen, dass das Weise etwas von allem Getrenntes ist (ab-solutum)“.
Gott ist tot, aber nicht das Denken über das Göttliche. Wie wäre es also, „The Tree of Life“ als Versuch zu sehen, sich des Lebendigen im Kleid der christlichen Religion zu vergegenwärtigen? Wie wäre es weiter, Gott und Leben gleichzusetzen. Ein Gleichsetzen, das den bereits von Heraklit erkannten Webfehler einer reflexiven Reduktion (s.o.) vermeidet und stattdessen offen bleibt für die größte Mannigfaltigkeit. Eine andauernde und nie enden wollende, ekstatische Meditation und eine Ode an die Lebendigkeit – das wäre ein solches Offenbleiben und das sind auch die Prinzipen, mit dem Terrance Malick in immer neuen Variationen den Zuschauern ein Gemälde aus Bildern, Klängen und Musik malt.
Die Lebendigkeit zeigt sich in allem, sie ist das verbindende Element. Sie ist bedingungslos und zeitlich, wandert von innen nach außen, durchdringt alles Feste, Flüssige oder Flüchtige. Die Lebendigkeit ist nicht nur beim Menschen. Sie kennt keinen Anthropozentrismus. Sie war vor und wird auch nach dem Humanum sein. Sie ist das eigentlich Ewige, wobei Ewigkeit hier Wandel darstellt und nicht Starre. Einige zeitgenössische Denker, darunter Michel Serres, haben noch dieses ‚heraklitische Verständnis‘ vom Ursprung: „Zwischen einer Erde, die durch eine vermutete oder erwünschter Ordnung bestimmt ist, und einem Planeten- oder Sonnensystem, das sich in einem metastabilen Gleichgewicht befindet, lassen die
meteorologischen Erscheinungen, von der Theorie vergessen, eine prachtvolle Unordnung sichtbar werden“(2).
Diese Art „vom Denken vergessene Meterologie“ durchzieht den Film als roter Faden. Er windet sich um die Fragen der Protagonisten herum, verlässt aber auch die Leinwand und schwebt durch den Kinosaal, bevor er die Zuschauer einwickelt in ihren Versuchen, mit der Bilderflut fertig zu werden. Selten geworden ist es nämlich, dass ein Sitznachbar aufhört, sein Popcorn zu kauen und dass er sich sogar bemüht, leise zu atmen. All das, um sich andächtig den Wirkungen hinzugeben von ätherischen Lichtfiguren, tanzenden Algenwäldern, leuchtenden Sternenhaufen, fernen Galaxien, Vulkanausbrüchen, meterhohen Brechern an steilen Küsten oder fluktuierenden Wolkenformationen.
Ehrfurcht breitet sich aus und auch Trost im Angesicht der Möglichkeit zu solcher Mannigfaltigkeit – Möglichkeit, an der der Mensch Teil hat. Nicht nur die Unendlichkeit ist es also, die den Atem stocken lässt, sondern das Leben, das sich eben gerade auch in seiner Endlichkeit, seinem Verfall und seiner Destruktion darstellt. Martin Heidegger zeigt in den Vorlesungen aus dem Wintersemester 1929/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit in einer an die romantischen Bilder Caspar David Friedrichs erinnernden Klarheit, dass die o.g. Erfurcht (hier Ergriffenheit genannt) im Angesicht des Existierenden über eine grundlegende Stimmung motiviert ist: „Was da in diesem Fragen und Suchen, in diesem Hin-und-her geschieht, ist die Endlichkeit des Menschen. Was sich in dieser Verendlichung vollzieht, ist eine letzte Vereinsamung des Menschen, in der jeder für sich wie ein Einziger vor dem Ganzen steht“ (3).
Lebendigkeit, Endlichkeit, Tod. Diese Trias ist auch in „The Tree of Life“ im Motiv des gestorbenen Sohnes manifestiert. Die gläubige Mutter will das Opfer nicht verstehen, das ihr abverlangt wird, kann den Tod nicht in Verbindung bringen mit dem Weg der Gnade, den sie doch immer gegangen ist. Und auch der Vater fragt sich, warum die entrichteten Zehnten, regelmäßige Kirchgänge und fester Glaube nicht ausreichen für ein sorgenarmes Leben.
Das sind Fragen an die Religion, die ein jeder Kinobesucher nachvollziehen kann. Terrance Malick zeichnet eine Antwort, indem er klarmacht, dass es diese nicht geben kann. Sein ganzer Film zeigt, dass die Lebendigkeit selbst die Perspektive auf das freigibt, was Göttlichkeit sein kann. Schwerlich könnte diese in der menschlichen Sprache antworten, wohl aber in einer umfassenderen, deren Vokabeln wie Grammatik auch schon im Menschen sind. Die Rede ist vom Logos, so wie Heidegger ihn definiert: „Existieren als Mensch heißt schon: das Waltende zum Ausspruch bringen. Zum Ausspruch wird gebracht das Walten des waltenden Seienden, d.h. seine Ordnung und Satzung, das Gesetz des Seienden selbst“ (4).
Der Logos ist also schon Bestandteil vom Menschen, allerdings erfordert er ein spezielles Hören, denn seine Sätze sind die Zeit, seine Buchstaben sind das Werden. Seine ‚Antwort‘ im Sinne des waltenden Seienden wre nicht getrennt von der Frage, sie wäre keine Betrachtung eines Problems, denn wie sollte ein Gefüge, das die Identität von Sein, Vorstellung und Wirklichkeit ist, überhaupt ein solches ‚bemerken‘? Hierzu noch einmal der Vorsokratiker Heraklit, dem das offensichtlich schon klar war: „Zusammensetzungen sind Ganzes und Nichtganzes, Einträchtig-Zwietrchtiges, Einstimmend-Mißstimmendes, und aus Allem Eins und aus Einem Alles“ (5).
Es ist in „The Tree of Life“ gelungen, das Poetische zu berühren. Die Bilder des Films erschlagen nicht, sie öffnen. Sie geben dem Zuschauer Zeit und nehmen sie ihm nicht. Sie lassen ihm Weite, damit er in das Eindringen kann, was sie nicht zeigen. Terrance Malick versucht immer wieder, die Beschränktheit des Films zu überwinden, in die Nähe zu gelangen, die Oberflächen zu durchstoßen. Damit meidet er den Geburtsfehler des modernen, apparategesteuerten Bildes, nämlich eine Fokussierung, die Manifestation der Einzelheit, das Streben nach der scharfen Abbildung. Um diese geht es eben gerade nicht, sondern vielmehr um das Vermengen und Verschwimmen. Mit der Poesie kann das Bild gerettet werden, indem es besiegt wird, in dem der Mensch über es hinweg und durch es hindurch steigt.
Die Natur, die Sterblichen und in gewisser Weise das Göttliche sind nach Heidegger gefügt in der physis und diese bedeutet das Wachsende: „Physis meint dieses ganze Walten, von dem der Mensch selbst durchwaltet und dessen er nicht mächtig ist, das aber gerade ihn durch- und umwaltet, ihn, den Menschen, der sich darüber immer schon ausgesprochen hat. Was er versteht – so rätselhaft und dunkel es im Einzelnen sein mag -, er versteht es, es naht ihm, trägt und erdrückt ihn als das, was ist: physis, das Waltende, das Seiende, das ganze Seiende“ (6). Man könnte also noch viel schreiben über diesen Film. Besser ist es jedoch, ihn sich anzusehen und sich von den großen Fragen durchwirken zu lassen. Im Vollzug dieser Wirkungen nämlich findet das statt, was im Film thematisiert wird.
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1. Heraklit: Fragmente; hrsg. von Snell, Bruno; München/Zürich 1995 [1989]; 33
2. Serres, Michel: Hermes IV. Verteilung; Berlin 1993 [frz. 1977]; 7
3. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit; Vorlesungen aus dem Wintersemester 1929/30; in: Gesamtausgabe Bd. 29/30; FaM 2004 [1983]; 12
4. ebd.; 40
5. Heraklit: a.a.O.; 9
6. Heidegger, Martin: a.a.O.; 39
Erschienen: TABULARASA