Über die Vielfalt spät-sowjetischer Architektur …

By cjg on 1. Februar 2016 — 4 mins read

Frédéric Chaubin ist der langjährige Chefredakteur des französischen Lifestyle-Magazins „Citizen K.“ und macht derzeit eifrig seinen neuen Bildband bekannt. Bis 2010 hatte er sieben Jahre lang den Raum der ehemaligen Sowjetunion bereist und dokumentierte das bauende Schließen eines Kreises. Die Erben dessen nämlich, was so enthusiastisch als russischer Konstruktivismus im Anschluss an die Oktoberrevolution von 1917 begann und im Blick auf das architektonische Potential keineswegs den Vergleich mit dem Weimarer „bauhaus“ scheuen muss, fanden offensichtlich zu ihren Wurzeln zurück.

Auf etwas über 300 Seiten sind im Großformat (26×34 cm) die beeindruckenden Fotos spät-sowjetischer Architektur von 1970 bis 1990 präsentiert. Dass es neben dem geneigten Seher auch dergleichen Leser gibt, hat man allerdings beim Einführungsteil vergessen, denn leuchtend rote Hintergründe eignen sich eher selten, um weißen Fließtext zu entziffern – aber das nur nebenbei.

In einem Video Interview erläutert Frédéric Chaubin, wie die Melancholie der Bauwerke ihn besonders ansprach. Er hat es geschafft, dieses Gefühl auch ins Buch zu bannen. Abgebildet werden fast durchweg Solitäre, also allein stehende Gebäude, die sich kraftvoll ihren Raum nehmen bzw. ihn geben. Das poetisch-melancholische Potential entfaltet sich in ihrem Genügen, als stumme Zeugen den Mut zum offenen Horizont zu markieren und dabei gleichzeitig bauliches Geleit menschlicher Tatkraft zu sein.

Die abgebildeten Häuser sind also nicht zuletzt dreidimensionale Belege für die Fähigkeit zur Lösung aus der Tradition einer religiös verbrämten Conditio humana. F. Chaubin dazu: „Diese Arbeit ist eine Hommage an ihre (die Architekten, CJG) Maßlosigkeit“. Hier sei einer der bekanntesten Konstuktivisten, nämlich El Lissitzky (1890-1941) mit einem Gedichtauszug von 1926 in Erinnerung gerufen: „Der Mensch ist das Maß des Schneiders. Aber Architektur messt an Architektur“.

Damit sind wir auch schon beim Kern angelangt. Was hier zu sehen ist, gibt es in unserer Gesellschaft wohl kaum noch: die Utopie. Und aus ihrem Verlust speist sich auch die Wirkung der fotografierten Bauwerke. Diese waren auf das Engste verknüpft mit der Technologie. Sie stand für die Kraft zum Künstlichen, die Kunst und Technik als Ingredienzien einer menschengemachten Ordnung neu synthetisierte.

Offensichtlich haben wir heutigen Bewohner des „Weltinnenraums des Kapitals“ (P. Sloterdijk mit gleichnamigem Buchtitel) uns mit einer Technik abgefunden, die die visuelle wie virtuelle Horizontqualität des allumfassenden Netzes über geschmeidige Smartphones oder durchgestylte Computer sicherstellt. Zu Zeiten der russischen Revolution und, dank F. Chaubins Arbeit sichtbar, auch am zeitlichen wie räumlichen Ende ihrer territorialen Ausprägung, begriff man die Technik noch härter, mahnender, architektonischer.

Drei Thesen zum Baugeschehen in der späten Sowjetunion werden im kundigen Einführungstext zu der Frage entwickelt, wie sich das utopische Erbe der russischen Konstruktivisten rund 50 Jahre nachdem Stalin „den pionierhaften Rationalismus“ beendete, neu entfalten konnte. Entweder handelt es sich hier um ein Verfallsgeschehen, das der Fantasie die Erinnerung an kreativere Zeiten erlaubte oder es gaben sich die abtrünnigen Republiken im Süden und Norden der Union ihre Symbole zur Nationenbildung oder drittens glich das phantastische Keimen einem geplanten Modernisierungsversuch und also dem Ausbruch aus einem rationalistischen Kessel der Normen, Regeln und Vorschriften. Denn, so macht der Autor klar: „Jede in der UdSSR geplante Baumaßnahme wurde durch den Staat in Auftrag gegeben und Experten anvertraut, die vom Staat ausgebildet wurden und nur für den Staat arbeiteten“.

Verwundert reiben sich die heutigen Betrachter die Augen über das Science-Fiction Potenzial der spät-sowjetischen Architektur. Auch hier lohnt der intellektuelle Sprung zurück. „Über das architektonische Dostojewskitum und anderes“ titelte Mitte der 1920er Jahre I. Wereschtschagin seinen Aufsatz und schrieb u.a.: „Gegenwärtig werden nicht nur neue Fabriken aufgebaut, sondern auch eine neue Kultur und ein neuer Mensch…Wir haben neue Bauerfahrung. Diese Erfahrung fordert ein neues Bewusstwerden. Neuer Wein darf nicht in alte Schläuche gefüllt werden.“

Folgerichtig verschmähten die Konstruktivisten antikisierende Maße, Zahlen und Proportionen und gaben sich stattdessen ihre eigene Ordnung, zu der es ebenfalls gehörte, die Erdanziehungskraft überwinden zu können. Auch weit nach dem Ende der avantgardistischen Blütezeit blieb das Weltall und die Raumfahrt eine Kontante in der Sowjetunion, was sich nicht nur 1961 an Juri Gagarin (1934-1968), dem ersten Menschen im Kosmos zeigte, sondern eben auch in der Architektur.

Dass ein kommunistisches Denken in einer christlichen Strukturverwandtschaft operiert und auf eine noch zu erreichende, bessere[nbsp] (was immer das heißen mag) Welt ausgerichtet ist, dürfte nicht mehr ernsthaft umstritten sein. So verortet F. Chaubin die außerirdischen Ambitionen der Sowjetunion nicht nur im Wettlauf des kalten Krieges mit den USA, sondern auch als transzendenzgeschwängerten Mythos und bindet deren bauliche Blüten mit der Notwendigkeit der Massenversammlung zum Strauß einer „sowjetischen Liturgie“ zusammen.

„Cosmic Communist Constructions Photographed“ ist ein gelungener Bildband, der neugierig macht auf die noch zu entdeckte Geschichte eines Imperiums, das sich am Ende an seine Anfänge zu erinnern schien. Insofern wären die fotografierten Gebäude tatsächlich Platzhalter einer: „Macht, die illusorisch werden wird und deren Zerfall sich genau durch die zunehmende stilistische Diversität dieser Architektur manifestierte“.

Erschienen: AZ/Architekturzeitung