Versuche über Architektur und Natur …

By cjg on 16. Februar 2016 — 4 mins read

In der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ war am 8. Juni der Artikel „Atmende Städte und fühlende Häuser“ zu lesen. Darin wurde der Bionik wegweisendes Potenzial auf das Bauen in der Zukunft unterstellt. Einer Zukunft, in der es nicht mehr nur um Einsparung von Energie geht, sondern die Architektenzunft vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Vom Erfüllungsgehilfen religiöser oder weltlicher Repräsentationsdienste geht der Weg des Baumeisters demnach zum Ermöglicher selbstorganisatorischer und quasi lebendiger Gebäude. Eine Architektur, die sich nicht nur mit den Nutzern sondern auch der Umwelt regelrecht ins Benehmen setzt, die atmet, schwitzt, sich einhüllt oder öffnet, weist dabei auf ein bejahendes Naturverständnis und verliert die traditionelle Rolle der Vollstreckerin menschlicher (und damit künstlicher) Ordnung.

Wie lässt sich aber ein solcher Anspruch mit der Verwiesenheit an die (künstliche) Rechenmaschine vereinbaren. Die nämlich steht Pate bei den vorgestellten Öko-Utopien. Es scheint, als sei der Glaube an die komplette Übersetzbarkeit der natürlichen Phänomene in abstrakte Rechenoperationen mittlerweile soweit verinnerlicht, dass er selbst für einen Naturzustand gehalten wird.[nbsp]Einen Ausweg aus diesem abendländischen Dilemma kann die japanische Kultur weisen, wie anschaulich in dem Artikel „Visionen des Dazwischen“ in „Neue Zürcher Zeitung“ am 14. Juli zu lesen war. Hier wird die Arbeit von Suo Fujimoto vorgestellt, der gerade eine Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld hat. Er rekurriert ohne digitale Umwege aus der Beobachtung und Fügung des Materials und sieht in der Natur das Rätselhafte, Verschränkte und Unscharfe. Seine Räume leben und sie tun das, indem sie unbestimmt bleiben. Auf diese Weise wird, im Gegensatz zum Benutzen vorgegebener Raumprogramme, das wechselnde Bewohnen von Architektur möglich.

Das Anfang des Jahres erschienene Buch „Form Follows Nature. Eine Geschichte der Natur als Modell für Formfindung in Ingenieurbau, Architektur und Kunst“ lässt sich im Spannungsfeld dieser beiden Positionen verorten. Ihm war eine gleichnamige Ausstellung in Berlin vorangegangenen. Der reichlich bebilderte Band versammelt 25 teils historische Essays, die das Themenfeld von Architekten, Mathematikern, Philosophen, Biologen, Zoologen, Ethnologen oder Komponisten ausleuchten lassen. Das Personen- und (kurze) Sachregister sowie die Bibliografie runden das in Deutsch und Englisch geschriebene Buch ab.

Ein gerüttelt Maß Zivilisationskritik empfängt den Leser schon im Vorwort. Aber ganz im Gegensatz, etwa zu Heideggers „Ge-Stell“ wird behauptet, dass sich der herstellende Mensch außerhalb der Ordnung bewegt und damit der Natur schadet. Hier wird ein Schöpfungsgedanke sichtbar, der ein Driften in metaphysische Gefilde ahnen lässt. Auch die Auswahl der Themenblöcke und der Untertitel des Buches, der von ‚Form-findung‘ redet, scheinen zu bestätigen, dass hier im Vergleich zu den o.g. lebendigen Gebäuden ein weit weniger radikaler Ansatz verfochten wird. Zu groß wirkt vielleicht die Dominanz einer akademischen Konstruktionslogik, die das natürlich Begegnende in den Mühlen ihrer Reduktionsroutinen solange zerkleinert, bis es passt bzw., sich massenweise reproduzieren lässt. Hier (und nur hier) liegt eine kritikwürdige Ordnung, in der der Mensch sich bewegt.

Die Einführung zeigt sehr anschaulich die Mathematikseligkeit der abendländischen Kultur, dieses autonome Reich der ewigen Ideen, das uns Menschen schon zeigt, was schön ist. Daraus entspringt der o.g. Glaube, dass die Natur stets etwas mit Proportionen und Harmonie zu tun haben müsste und der Mensch durch seine „Gottesebenbildlichkeit“ das Maß aller Dinge sei. Allerdings erwähnt der Autor beizeiten, dass proportionale Anleihen keine Garanten für ästhetische Formen sind, sondern nur ein Werkzeug und kommt auch dazu, dass die Natur in ihrer Eigenart einem Chaosprinzip, einer nichtlinearen Dynamik und dem Zufall viel ähnlicher ist, als deterministischen Gesetzen. Auch hält er für vorstellbar, „dass neue synthetische Formen und Strukturen in diesem Duktus entwickelt werden“. Das ist ein (wohltuender) Beleg, in der Gegenwart angekommen zu sein und tatsächlich finden sich im Buch denn auch Vertreter eines überkommenen Schönheitsbegriffs neben solchen, die dem Zufall eine Chance lassen und u.a. die Bewegungsspuren von Funken, flüssige Kanten von Seifenblasen, biegsame Hüllen von Pneus und allerlei Schalen und Gehäuse befragen.

Anregungen für die architektonische Praxis können die geneigten Leser im Interview mit Frei Otto bekommen bzw. in seinen Essays über Schalentiere und Seeigel bzw. Seifenblasen. Aber oder auch die Artikel über das japanische Wohnhaus, die Wohnbauten der Naturvölker, den organischen Ansatz Frank Lloyd Wrights oder den Visionen eines Hermann Finsterlin mögen hilfreich sein. Man fragt sich freilich, wo Hugo Häring bleibt oder auch Friedensreich Hundertwasser und erinnert sich dann schnell an das Vorwort, in dem der Anspruch auf Vollständigkeit nicht erhoben wurde. Auch der Herausgeber des Buches, Rudolf Finsterwalder, stellt fünf seiner Projekte vor, in denen versucht wurde, „eine optimale Lösung für Funktion, Konstruktion und Material zu entwickeln“.

Eine Ingenieurperspektive prägt die Abschnitte über technische Biologie, funktionelles Design oder Konstruktionsmorphologie. Hier ist man dem Gedanken der Effizienz verpflichtet und deutet diese als das durchherrschende Prinzip der Natur. Sehr anschaulich sind in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellungen von natürlichen Vorbildern und menschlichen Artefakten, so z. B. Sägeblättern, Injektionsnadeln, Saugnäpfen, Holzbohrern oder dem Klettverschluss. Ein Essay über Muster untersucht die Zeichnung von Tierfellen, die Struktur der Schneeflocken, Dünenlandschaften in der Wüste, Meereswellen, Regenbögen oder auch Spiralgalaxien. Sympathisch ist hier besonders, dass der Mathematiker Ian Stewart das Staunen noch nicht verlernt hat.

Der Essay von Dieter Dolezel verdient Erwähnung. Der Komponist mit philosophischem Hintergrund bemüht nämlich die wechselwirkende Trias von Material, Struktur und Form, um Musik als gestaltete Zeit zu erläutern. Eine Zeit, die sich verräumlicht und auch an Fassaden oder Grundrissen ablesbar wird. Keineswegs bleibt der Autor aber bei den Fibonacci-Reihen oder dem Goldenen Schnitt stehen, sondern zeigt mit der Selbstähnlichkeit einer Mandelbrotmenge und der Chaostheorie Wege auf, höchst komplexe Forme zu entdecken, die eher an Wucherungen erinnert, denn an Konstruktionen.

Erschienen (stark gekürzte Fassung): TEC 21