Versuche über das Musikhören …

By cjg on 25. Juni 2017 — 4 mins read

Josephine Geisler hat die Druckfassung ihrer Dissertation vorgelegt: »Tonwahrnehmung und Musikhören. Phänomenologische, hermeneutische und bildungspolitische Zugänge« will erörtern, wie Musik wirkt und behandelt dabei die letzten 200 Jahre europäischer Instrumentalmusik. Ton und Tonfolgen, Ton und Leib, musikalisches Verstehen und Bildungssinn des Musikhörens sind die Kapitel betitelt und mit Husserl, Heidegger, Plessner und Anders gebaut. Schließend dient Franz Fischer (1929-1970, arbeitete an einer sog. Proflexionsphilosophie, die die Übergänge von Erleben, Wissen und Handeln untersucht) dazu, die Ansätze der Vorgenannten in einen bildungskategorialen Zusammenhang zu bringen. Grundsätzlich zielt Geisler auf das Hörbare, mit dem der Hörer – bei ungeteilter (!) Aufmerksamkeit – seine Musikerfahrung macht. Mittels der Charakterisierung eines »aktiv-passiven Geschehens« verdeutlicht sie ein »leibbezogenes Sinnverstehen«, das einen Mitvollzug generiere und baut so die Brücke zwischen Mensch und Welt bzw. skizziert den Akt der Wahrnehmung.

Mit Husserl stellt die Autorin im Startkapitel die »passive Synthesis« gegen die aktive und klärt damit zwei Arten des Wahrnehmens. Die erste Form sei »naiv«, beziehe sich auf das direkte Begegnen mit dem Ding, dessen Selbst spontan gegeben werde, während letztere kategorial sei und die Möglichkeit berge, das Begegnende im übersteigenden Sinn zu erschließen. Die Tonerfahrung sei in den ersten Modus einzuordnen, einen, den Geisler anhand von Husserls berühmter Vorlesung »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins« expliziert. Die Begriffe Urimpression, Retention und Protention markieren ein Feld, in dem Wahrnehmung gleitet und nicht etwa feststehend ist. Hierin erscheint der Autorin auch ein musikalischer Sinn. Der Ton sei nicht in der Zeit, vielmehr wirke er als Zeit. Nicht Erscheinung, sondern Zeit-Empfindung: »Im Tonwahrnehmen ist der Hörer im Wahrnehmungsfluss und kann auf das Fließen (des Tones) und alles, was in ihm geschieht, schauen, wenngleich der Fluss selbst nicht angeschaut und nicht verobjektiviert werden kann.« (S. 77-78)

Die Autorin will auf die Leiblichkeit im Empfinden hinaus und Helmuth Plessner gibt ihr die Möglichkeit dazu, denn Töne würden ihm zufolge körperlich erlebt. Formen »seelisch-leiblicher Bewegung« und auch gestische Verkörperungen wiesen auf musikalischen Sinn hin und hierdurch sei ein leiblicher Mitvollzug zeitlicher Dimensionen gegeben. Die Wahrnehmung übersteige sich förmlich, indem sie Abstraktion zu Gunsten der Konkretion hinter sich ließe. Auch G. Anders erweitere Husserls diesbezüglich, indem er die Tonwahrnehmung vergegenständliche. Diese meine »[…] ein untrennbares Zusammengehören von Tonsubstanz und der Erlebensqualität, wobei das Erleben sich auf die Gestimmtheit des Höheren bezieht« (S. 147 f.). Geisler bringt Günther Anders auch in Stellung, um die Passivität im Hörgeschehen in eine Aktivität umzumünzen, so geht sie z. B. auf das Lauschen ein, denn dieses gliche einem Eingelassen-Sein in ein musikalisches Geschehen, worin sich auch Umstimmung und Verwandlung des Rezipienten, die sog. »stimmungsbezogene Selbsterschließung in der Anschauung« (Ebd.), ereignen könne.

Den nächsten Baustein für ihr Theoriegebäude, nämlich die Begründung dafür, dass die Anregung zum Hinhören im Hörenden bewusst und unbewusst gleichermaßen geschieht, entnimmt die Autorin Heideggers »Der Ursprung des Kunstwerks« sowie in Auszügen aus »Sein und Zeit«. Im lichtenden Entbergen, dem Wahrheitsgeschehen, stelle sich auch das Musik-Kunstwerk in Offene und könne damit in die Wahrnehmung gelangen. Die Entschlossenheit des Rezipienten garantiere die Teilhabe am Zuspruch des Kunstwerks: »Die Bereitschaftshaltung, die Heidegger mit Entschlossenheit bezeichnet, meint Zurückhaltung des Vorurteils und Gewährenlassen des Seienden; sich ansprechen lassen von der eigentümlichen Ansprache des Werkes.« (S. 212) Allerdings verlässt Geisler Heideggers Ansatz auch wieder, denn es gehe um die Musik-Wahrnehmung und diese sei nicht etwa »ein aussagbares Sein«, sondern bliebe im permanenten Fluss des Hörbaren gebannt. Auch liefe die musikalische Existenz nicht »zum Tode vor«, man könne ihr nicht »verfallen« und sie ebenfalls nicht als »Zeug« (Sein und Zeit-Terminologien) gebrauchen. Musik habe vielmehr das Potenzial zur Entfremdung und öffne darin eine »unthematische, ungegenständliche Selbsterfahrung« (S. 272).

Hieraus könnten, so Geisler, auch ganz praktische Konsequenzen gezogen werden, etwa in der Musikausbildung für Kinder. Diese zeigten sehr deutlich, wie Musik auf Leib und Stimmung wirkt, jedoch ohne, dass ein musikalischer Sinn sich verkörpere. Darum müsse es aber gehen, denn der »leiblich-zuständliche Aspekt« gehöre zum Musikhören wie auch zum Musizieren dazu und müsse gelernt werden. Geisler hätte hier zur Verdeutlichung auch die Arbeit von Dirigenten tangieren können – man denke an die Beethovenfilme Herbert von Karajans aus den 1960er und 1970er Jahren: Orchester, Kapellmeister und Musik sind darin eins. Karajan zeichnet, formt, modelliert Klänge mit den Händen, der ganze Körper schwingt, tanzt, geleitet, hüpft, stampft, ist ergriffen und greift gleichzeitig auf die Musiker zu. Die Musikgruppen sind synchron und wirken wie Schilfgürtel, die der Wind des Klanges sanft aber unerbittlich biegt. Der von Geisler gesuchte Sinn scheint hier voll entfaltet.

Im Buch erscheint ein Theoriegebäude, das das Ziel verfolgt, Wahrnehmung, Leib und Ton zusammenzuführen. Es ist eingebettet in den musikphilosophischen Diskurs, will aber einen phänomenologischen Zugang eröffnen. Die Autorin schafft es, Phänomen, Reflexion und Erleben zu vermitteln, und die Brückenschläge in die Musikbildung sind dabei sehr hilfreich. Josephine Geisler hat mit Husserl, Heidegger und Plessner die Simultanbesteigung dreier Gipfel versucht. Eine Tour, bei deren Nachklettern häufigere Ruhepausen empfohlen sind.

Erschienen: Journal Phänomenologie, Heft 46 (2016)