Versuche über einen Sturm ohne Wasserglas …

By cjg on 24. Februar 2016 — 3 mins read

Rathaus, Kirche, Einkaufsmeile – fühlen Sie sich noch immer wohl beim Innenstadtbummel? Biotextil, Solarzelle, Dinkelkeks – halten Sie die Ökoindustrie mittlerweile für ein Gebot der Vernunft? Smartphone, Edelfüller, Maßanzug – finden Sie Ihr Glück stets aufs Neue in den Waren? Beantworten Sie die meisten dieser Fragen mit Ja, dann haben sie kein Problem mit der Gegenwart und auch keinen Anlass, diese Rezension zu lesen. Verneinen Sie allerdings, scheint sich eine Art Widerstand zu regen, auf dessen Grund Sie mit dem Buch RLF. Das richtige Leben im falschen gehen könnten.

Friedrich von Borries legte kürzlich den gleichnamigen Roman vor. Der Plot ist mager und schnell verdaulich: Ein Protagonist macht die Wandlung von Saulus zu Paulus durch, bevor er sich das Leben nimmt. Dessen Bekehrung verläuft freilich während der Teilnahme am Londoner Aufstand im Jahre 2011 und die zugehörigen Wandlungsstufen werden von zwei Feme fatals ausgelöst bzw. begleitet. Ungewöhnlich ist die Kombination mit realen Interviews. So finden sich zur Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen gäbe, mannigfaltige Antworten von
Soziologen, Protagonisten der „Occupy Bewegung“, Aktivisten, Autoren,
Künstlern, Ökonomen und Philosophen. Zuträglich ist ein Glossar, das über Personen, Gegenstände, Software, geschichtliche Exkurse oder die jüngste Zeitgeschichte informiert.

Das Buch will eigentlich kein Roman sein und das ist sein Potenzial. Vielmehr kommt unter dem Deckmantel der Belletristik eine tiefgehende Strukturanalyse unserer globalisierten Gegenwart daher. Eine allerdings, die an warenförmigen Allgegenwärtigkeiten von „Blackberry“ über „H & M“ bis zu „Prada“ nachvollziehbar entfaltet wird. Die Gretchenfrage lautet, wie der Widerstand gegen ein System organisiert werden kann, das jedwede Kritik augenblicklich nutzt, um sich zu modernisieren.

Erinnern Sie sich an die eingangs gestellten Fragen? Sie gehören zum
Anamnesebogen, den der Homo oeconomicus ausfüllt, bevor er im Wartezimmer Platz nimmt. Welcher Arzt wird aber am besten konsultiert, wenn es um die immateriellen, diffusen Beschwerden von Menschen geht, deren einzige Not darin besteht, z.B. 20 Minuten auf ihr Essen zu warten oder nur zwei Mal pro Jahr in den Urlaub fahren zu können? Friedrich von Borries empfiehlt in seinem Buch, situationistische, neomarxistische und aktivistische Spezialisten zu konsultieren, um Diagnosen und Therapievorschläge zu bekommen.

Der Architekt, Autor und Professor weiß, was er tut, denn an der „Hochschule für bildende Künste“ in Hamburg erforscht er die Möglichkeiten, sozial und politisch wirksam zu sein, um Veränderungen herbeizuführen. Urbane Interventionen mit den Mitteln von Theater, Performance, Aktionskunst und kulturellem Aktivismus markieren sein Untersuchungsfeld. Ein gleichnamiges DFG-Forschungsprojekt unter seiner Ägide befragt dabei die entsprechenden Widerstandsformen gegen baulich wie gesellschaftlich homogenisierende Konsumverhältnisse. Mittlerweile ist dieses kritische Potenzial allerdings von den
Marketingabteilungen der jeweiligen Städte erkannt und wird regelmäßig
unter dem Verwendungszweck „Kreativität“ auf der Habenseite der
Imagekonten verbucht. Womit wir wieder beim Thema wären. Wie ist
tatsächlicher Widerstand möglich?

Jan, der Protagonist in RLF. Das richtige Leben im falschen, findet darauf eine verblüffend einfache Antwort und gründet zusammen mit zwei Aktivisten ein gewinnorientiertes Unternehmen, das Luxusgüter und Kunstwerke anbietet: „Mit jedem gekauften Produkt beteiligt sich der Konsument am Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch den Kapitalismus. Aber Kampf ist ja nicht alles. Es gibt ja auch friedliche Wege zur Revolution.“ Fortan geschieht Konsum also gewandelt, denn die Firma macht jeden Käufer gleichzeitig zum Teilhaber der Revolution und verleiht den Produkten anarchisches Potential. Das Fernziel ist dabei die Finanzierung einer Mikronation, in der ein richtiges Leben stattfinden kann.

Der vorliegende Roman dokumentiert in vielen Facetten die Suche nach politisch-kulturellen Alternativen zu den gegenwärtigen Verhältnissen in der westlichen Hemisphäre. Das Glossar und die eingestreuten Interviews taugen gut zum Komplettieren von Genese und Theoriebildung der entsprechend global operierenden Gruppen und Initiativen. Ein antikapitalistisches Unternehmen als Nukleus für Utopia? Wer weiß, vielleicht sind Sie ja schon dessen Kunden?

Erschienen: Faust-Kultur