Es gibt Bücher, die machen einfach Spaß. Man nimmt sie öfter in die Hand als andere, dreht und wendet sie, blättert die Seiten wie im Daumenkino immer wieder schell ab und freut sich über den leicht artifiziell, aber nicht unangenehm duftenden Windzug, der dabei entsteht. Man lässt die Hände über den Einband geleiten, über Front und Rücken und empfindet es als angenehm, ein wenig samtenen Widerstand dabei zu spüren.
„Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung“ lautet der Titel des Buches, das ohne gelesen zu sein, schon Spaß macht. Schlägt man es auf und fängt das Blättern an, empfängt einen auf 250 Seiten neben dem oben schon erwähnten eigentümlichen Duft, ein bilderreiches, gut layoutetes und rundum frisches Werk von Elisabeth Blum.
Sie war ebenfalls die Projektleiterin, die zwischen 2007 und 2008 das schweizerische Luzern zum Stadtlabor machte, in dem Wirkungen von Räumen und Objekten untersucht wurden. Aus dieser Forschung entstand auch das vorliegende Buch, das zum Ziel hat, in Interviews und Fallbeispielen den Begriff der Atmosphäre präziser zu fassen und ihn für die Gestaltungspraxis nutzbar zu machen. Besonders hervorzuheben ist der Versuch, Internet und Printmedien zu verbinden, so sind etliche Zitate und auch Bilder mit Hyperlinks versehen zum Online-Pendant.
Offenbar wird hier verwirklicht, was „künstlerische Forschung“ heißt. Mit dem Mittel der Kunst werden die für uns Menschen so nötigen Begriffe lebendig. Dass Wissenschaft anschaulich, assoziativ und atmosphärisch sein sollte, brachte schon Nietzsche auf den Punkt, indem er uns warnte vor: „dem Columbarium der Begriffe als Begräbnisstätte der Anschauung“ (Nietzsche, Friedrich: eKGWB; Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn). Es ist doch vielmehr so, dass die Kunst sich Problemen annehmen kann, bei denen der reduktionistische Akademismus versagt.
Menschen haben Teil an Atmosphären mit dem ganzen Leib. Leib steht hier als Drittes zwischen Objekt und Subjekt. Man betrachtet nicht bloß anderes, sondern ist simultan mitten drin im Eigenen, im Anderen, und in ihrem Dazwischen. Unsere Spezies ist begabt dafür, sich ansprechen zu lassen von dem Umgebenden. Gleichzeitig spricht ein Mensch dabei andere(s) ebenso an und wird so wiederum zum Atmosphärenstifter. Eine grandiose Sinfonie mit zahllosen Orchestergruppen, die in den prächtigsten Wirkungsfeldern miteinander interagieren – das ist die menschliche Verkehrsform.
Schon die Einleitung schlägt in diese Kerbe und stellt die collagenhaft wirkenden, szenischen Kombinationen von Bild und Text in die Inspiration von Roland Barthes Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“. In Bewegung und flüchtig will die Autorin ihr Thema halten. Sie will klären, ohne festzulegen. Ans Licht bringen, mit der Perspektive des Schattens. Zeigen, wie das „Ambivalente, mehrfach Kodierte, Überdeterminierte, dass zwischen den Disziplinen Oszillierende, Doppelbödige, Bodenlose, Imaginäre, Rätselhafte, Unheimliche, Angsteinflößende“ sich Raum greift.
Sieben Kapitel braucht Elisabeth Blum dazu, dem Leser klarzumachen, dass räumliche Wahrnehmung ein interaktiver Prozess ist. Wir Menschen können nicht anders, als wahr-zu-nehmen und uns dann zu bemühen, das Genommene zu verarbeiten. Die Verarbeitung geschieht nun wiederum in die andere Richtung. Sie ist ein Entwerfen, ein Stellen, ein Einrichten, ein Zurichten.
Die Art und Weise, wie sich entsprechende Zurichtungen oder Entwürfe begegnen, beschreibt das Erleben der Menschen in den jeweiligen Situationen und Orten. Welten oder, wie Frau Blum sagt „Wissensarchive“, können dabei aufeinanderprallen. Zur Be-wirkung verdammt, sind wir also den „Ekstasen“ der Dinge ausgeliefert. Farben, Gerüche, Ausdehnungen, Formen und Klänge stürmen auf uns ein und zwingen uns, ihre Anwesenheit zu quittieren. Hier verarbeitet die Autorin Gernot Böhmes Ansätze und seinen Klassiker „Atmosphären“ von 1995.
Jede Situation ist für jedes reflektierende Subjekt anders. Sie bestehen für einen selbst und erst recht für andere, die sie teilen, aus den sichtbaren „Ekstasen“, aber natürlich auch aus Ängsten, Träumen und Wünschen. Situationen bergen Unsichtbares also genauso, wie Sichtbares.
Wirklichkeit ist nicht allgemein verbindlich, sondern nur temporär und nur als Ausschnitt mit Eigen- und Fremdpräsenzen verbunden. Das Wichtige an der Wirklichkeit ist, DASS sie wirkt. Der Dialog tritt in diesem Konzept an die Stelle der Wahrheit. Ja, es gibt noch nicht einmal mehr viele Wahrheiten, sondern nur noch vorübergehende Entwürfe und Perspektiven. Konstruktionen, die sich begegnen und wieder verflüchtigen.
Die zweite Hälfte des Buches wendet sich der Frage zu, in welcher Weise die atmosphärische Prozessualität sich dialogisch entwickelt. Es werden zum Beispiel die Übergänge vom Sichtbaren zum Unsichtbaren untersucht oder Brückenschläge gemacht, um ein Eingeschlossenes sich übertragen lassen zu können. Wiederum an Nietzsche mit seiner „Architektur der Erkennenden“ erinnern die Schattendialoge mit Le Corbusier: „…Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln…“ (Nietzsche, Friedrich: eKGWB; Die fröhliche Wissenschaft).
Nachdem Elisabeth Blum beleuchtet, wie Territorien markiert und Traumata topographisch manifestiert werden, streift sie am Ende ihres Buches das Prekäre und setzt damit die collagenhafte Suche in den dunklen und verdrängten Seiten der Wahrnehmung bis zur letzten Seite fort.
Das vorliegende Buch ist ein Weg. Man nimmt es immer wieder zur Hand, streift darin, denkt nach, verbindet die Zitate, die wie Aphorismen wirken mit den visuellen Botschaften und bewegt sich eher im Ungeschriebenen der Fließtexte. „Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung“ repräsentiert damit sein Thema in einer schlüssigen Weise. Es entzieht sich lebendig, fruchtbar und im besten Sinne einer distanzierten Betrachtungsweise und lässt dabei Bezeichnendes und Bezeichnetes in eins fallen. Das kann nur gelingen, indem Prozess und Lebendigkeit sich im Buch selbst ereignen.
Erschienen: ARCH+