Was kann Aneignung des Stadtraums bedeuten? …

By cjg on 22. Januar 2016 — 4 mins read

Vilém Flusser zeichnet in einem seiner Bücher (1) sehr anschaulich die Entwicklung der modernen Stadt nach. Zur agrikulturellen Verfasstheit menschlichen Zusammenballens in Zivilisationen schickt er lapidar voraus: „…Von Anbeginn beruht die Macht auf Dreck und macht die Hände schmutzig…“. (2) So weit, so gut.

Mit der platonischen Schilderung eines Dreiklangs der Stadt in Häuserraum (oike), Marktraum (agora) und Kontemplationsraum (temes) bereitet Flusser eine gute Basis, um auf die aktuelle gesellschaftliche Bewegung, sich Stadtraum anzueignen zu reflektieren, bzw. die Frage danach aufzuwerfen, wem denn eigentlich die Stadt „gehört“.

Platon war sich sicher, dass die Weisheit oder Theorie (temes) an oberster Stelle stehen sollte und sich unter ihr Politik wie Handel zu entfalten hätten. (3) Ein Ideal freilich, das nicht verwirklichen werden konnte. Blicken wir doch heutzutage deutlich dem vollzogenen Wandel zur Herrschaft des Marktraums (agora) ins gebaute Gesicht. Nochmal Flusser mit der Zuspitzung dieses Wandels: „…Der Sieg der Konsumenten über die Politiker und Theoretiker, sei es in liberaler oder sozialistischer Form, muss daher als Herstellung einer idiotischen Zivilisation gesehen werden…“  (4)

Möglicherweise lassen sich die gegenwärtigen Bestrebungen von Stadtraumaneignung als weitere Verschiebungen innerhalb des platonischen Dreiklangs deuten, denn dieses Mal schickt sich die Faktion des Hausraums (oike) an, sich die Hände um der Macht willen schmutzig zu machen. Bleibt die Frage, ob die Weisheit (temes) nicht wieder auf der Strecke bleibt, denn wie sollen die Weisen einer modernen, westlichen Gesellschaft ohne verbindliches Wahrheitsideal sich auf die Bedeutung von Tugenden einigen, geschweige denn diese bewahren können? Aber das nur nebenbei.

Eine fernöstliche Momentaufnahme der oben beschriebenen Wandlung leistet das Forschungsprojekt „Taking to the Streets“, das vom Lehrstuhl Günther Vogt an der ETH Zürich durchführt wird. Methoden der Aneignung öffentlicher Räume in Berlin, Shanghai, Tokyo und Zürich steht dabei im Interesse der Bauforscher. Mit „Tokyo. Die Strasse als gelebter Raum“ (5) liegt nun der erste Teil der Studienergebnisse gut leserlich und reichlich bebildert vor.

In Teilen kommt das Buch als Art fundamentaler Stadtführer aus Architektensicht daher und lebt von Staunen des Abendländers im Angesicht des Fremden. Besonders fallen die anderen Hierarchien der Straßen und Räume auf.

Weit entfernt von unserer visuellen Zurichtung durch die Zentralperspektive fehlt in der japanischen Stadt auch die Abgrenzung von außen und innen, von Stadt und Land. Alles scheint dicht geflochten und durch reine Bewegung bestimmt. Die Menschen auf den Straßen fließen förmlich in der polyzentrischen Struktur Tokyos und werden von Zeit zu Zeit mittels aufgewerteter Durchgangsorte an Straßenkreuzungen und Bahnhofsquartieren bestenfalls ein wenig verlangsamt.

Bewegung und permanenter Wandel durchziehen also als Leitmotiv das urbane Geflecht und scheinen sich auch zu spiegeln im unprätentiösen Umgang mit historischer Bausubstanz – an dieser wird in der Regel nämlich nicht festgehalten. Plätze, lauschige Ecken, typische Stadtmöblierungen wie Parkbänke, Mülleimer, Wasserspiele kennt man in Tokyo bestenfalls aus westlichen Filmen und ersetzt eine nicht vorhandene, öffentliche Verweil- durch eine Pendlerkultur.

Vor dem Hintergrund, dass Stadtraum zum reinen Bewegungsraum wird, erscheint das geographische Zentrum Tokyos umso faszinierender. Der kaiserliche Palastgarten ist nämlich eine verbotene Zone und gibt sich als Leerraum oder Unort. Gleich einem schwarzen Loch wird die hektische, städtische Energie absorbiert und bildet die Korona um eine Stille und um ein antipodisches Zentrum der Zeitlosigkeit.

Aber was genau sind die Aneignungslehren aus einer fernöstlichen Stadtkultur? Was lässt sich übertragen? Das Forscherteam der ETH Zürich sieht hier ein Modell für die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft, in deren Vollzug Stadtquartiere mittels verschiedener Funktionen wie Arbeit, Vergnügen, Kommerz, Wohnen (wieder) vermischt werden. Diese hohe Verdichtung trägt gemeinhin das Etikett „urbanes Wohnen“.

Wenn man in diesem Kontext die aktuellen Konflikte zwischen Anwohnern und Vergnügungssuchern im Prenzlauer Berg oder auf der Kreuzberger Admiralsbrücke in Berlin betrachtet bzw. sich in die Probleme der „Gentrifizierung“ begibt, taucht freilich die Frage auf, ob die postindustriellen Modell-Botschaften doch nur wieder der Erneuerung des Marktraumes (agora), also – um mit dem eingangs erwähnten Vilém Flusser zu sprechen, einer idiotischen Zivilisation – Vorschub leisten?  (6)

Gestehen wir uns ein, dass die Philosophen wahrscheinlich nie herrschen werden, (7) bleiben die Fragen nach der möglichen Dominanz des Hausraums (oike). Was könnte ein „Wohnen außer Haus“ bedeuten? Wie fügt sich die Okkupation des alltäglichen Lebens in die tradierte Verweilkultur der europäischen Stadt? Steht das Prinzip des Lustwandelns auf Plätzen nicht in Verwandtschaft mit einem Eventcharakter? Sehen und gesehen werden und Selbstinszenierung anstelle…Leben? Es könnte so einfach sein, aber reicht uns das Einfache, das Martin Heidegger so treffend beschreibt: „…Welt ist (…) ein Charakter des Daseins selbst…“?  (8)


1. Flusser, Vilém: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung; Frankfurt am Main 1998
2. Ebd.; S. 45
3. Vgl. hierzu: Platon: Sämtliche Dialoge, Der Staat, Dritter Hauptteil, Die Herrscherfrage – Herrschaft der Philosophen als Bedingung für die Möglichkeit des gerechten Staates; Übersetzt von Otto Apelt; Hamburg 1998; S. 209 ff.
4. Flusser, Vilém; a.a.O.; S. 46
5. Krusche, J. und Roost, F.: Tokyo. Die Strasse als gelebter Raum; Baden (CH) 2010
6. Siehe Anm. 4
7. Siehe Anm. 3
8. Heidegger, Martin: Sein und Zeit; Gesamtausgabe, Band 2; Frankfurt am Main 1977; S. 87

Erschienen: AZ/Architekturzeitung