Vor Kurzem ging es im Berliner „Citizen Art Days – Spot“ um „kooperative Kunststrategien und Beteiligungspotentiale im öffentlichen Raum“. Der Abkömmling der „Citizen Art Days“, die im Februar des Jahres stattfanden, bot denn auch die Möglichkeit zu Diskussionen, Mitgestaltungen, Workshops und Kunstaktionen. Unter dem Titel „Vertraute Fremdkörper“ fand auch eine Exkursion in das Einkaufszentrum „Alexa“ am Alexanderplatz statt.
Karsten Michael Drohsel führte rund ein Dutzend angehende Flaneure in den Konsumtempel und gab ihnen auf den Weg, vor allem die Überlagerung von öffentlichen und privaten Räumen und Zonen auf sich wirken zu lassen. Getragen war sein Sensibilisierungsversuch von der Sorge, dass eine Kontrolltendenz sich in Gebäude überträgt, die vermehrt im öffentlichen Raum auftritt. Und tatsächlich ist es schon erstaunlich, wie viele Kameras den Alexanderplatz mittlerweile überwachen und auch, wie wenige Passanten sich dafür interessieren, was ein Hotel, ein Elektronikwarenhaus oder eine Bank mit ihren Filmaufnahmen so alles anstellen. Ebenfalls nicht gerade ein Stein des Anstoßes scheint es für die Masse der Einkäufer zu sein, dass Einkaufszentren nur für eine gefilterte Öffentlichkeit bestimmt sind. Der Zweck, nämlich etwas (und sei es eine Tasse Kaffee) zu konsumieren, wird in der Regel vom Centermanagement erwartet. Vor diesem Hintergrund müsste der klassische Flaneur eine Persona ingrata sein, ist ihm doch der Zweck quasi professionell abhanden gekommen.
Die durchorganisierte Servicewelt des „Alexa“ jedoch ließ diese Erwartungen nicht wahr werden, denn die Exkursionsschar konnte unbehelligt erleben und auch im Anschluss in der Gruppe darüber sinnieren. Zwei ‚Unfälle‘, nämlich ein Hundehaufen nah der baldachinartig gekrönten Eingangsschleuse und der Totalausfall der hinteren Rolltreppen schienen diese ‚unperfekte‘ Tendenz noch zu bestätigen. Freilich machen ja Kleider die Leute und es wäre sicherlich ein weiteres Experiment wert, in Stadtstreichermontur den Gang zu wiederholen. Trotz aller Kritik (siehe u.a. hier: „Das Alexa ist hässlich wie die Nacht”,Die Welt), gehört das „Alexa“ sicherlich zu den Einkaufszentren, die sich von Nullachtfünfzehn abheben wollen. Das zeigt sich in der Raumbildung, den Detaillösungen, Materialien und einem Willen zu einer Ornamentierung, die Anklänge an den Art Déco der 1920er Jahre transportiert. Aber, um Architekturgestaltung ging es in dieser Exkursion ja auch weniger, als vielmehr um soziologische Aspekte.
Eingebettet war der „Citizen Art Days – Spot“ ja in das Thema der Stadtraumaneignung bzw. Bürgerbeteiligung. Dass Menschen sich fragen, welche Räume sie vorfinden und auch, wie deren Angebote auf sie wirken, ist im Geiste der Partizipation ja nur der erste Schritt. Ein weiterer soll sie dazu bringen, sich bereits an der Architektur- und Raumplanung zu beteiligen und den passiven wie retrospektiven Modus zu überwinden. Das wiederum scheint dem Bestreben des schweizerisch-amerikanischen Architekturbüros „agps“ nahezukommen. In der neuen Publikation: „Blickwechsel. 17 Kurzgeschichten über Architektur“ reden die Planer nämlich nicht selbst, sondern lassen fünf verschiedene Autoren eine Reihe ihrer zentralen Bauten in die Blicke nehmen.
Auf diese Weise entstehen keine klassischen Projektbeschreibungen, sondern Kurzgeschichten, die eher an Stippvisiten erinnern und von Gebäuden während ihrer alltäglichen Benutzung sprechen. Im Text „Haus ohne Dach“ wird z.B. von Bauherren berichtet, deren jüngster Sprössling im Alter von vier Jahren der Entwurfsverfasser für das neues Familiendomizil wurde. Das Haus zeichnet sich dadurch aus, nur Volumen sein zu wollen und für allerlei Nutzungen offen zu bleiben. Der „Lebensentwurf HAT96.4“ erscheint dem Autoren, Benjamin Muschg, auch als gebaute Manifestation von Friedrich Dürrenmatts Satz: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen“.
Margarete von Lupin wiederum schreibt einen kurzen Architekturroman, um ein Geschäftshaus am Bahnhof Winterthur zu verdeutlichen und skizzierte dabei atmosphärisch wie anschaulich das Geschehen im städtischen Raum. Den Versuch von „agps“, die Architektur in den Hintergrund zu setzen und deren Benutzer an der Definition und Gestaltung eines Gebäudes teilhaben zu lassen, nimmt Denise Bratton in den Blick. In einer Art Widerstandsakt gegen Big-Box-Einkaufszentren führten die Planer seinerzeit eine Variation zum Thema Verkaufsarchitektur durch, die sich in ihrer Nachbarschaft einfügt. Claude Enderle wiederum erweckt ein Mehrfamilienhaus durch seine Beschreibungen zum Leben. Er verbindet sehr anschaulich Blicke, Materialien und Raumgefüge miteinander und gibt ein Beispiel für eine stimmungsvolle Schilderung von Architektur.
Man mag die puristische Architektursprache von „agps“ mögen oder nicht. Was das Buch interessant macht, ist das Zurücktreten der Architekten. Vortritt haben hingegen die Nutzer bzw. dritte Autoren. Hier zeigen sich eine dienende Haltung und auch ein gewandeltes Verständnis der Zunft. Von der ‚Königin der Künste‘ und der privilegierten Position einer bauenden, rechten Hand der Mächtigen, hat sich diese Art Architektur jedenfalls gelöst. Sie findet sich vielmehr im Moment, im Alltag und direkt bei den Menschen, die sie bewohnen. Was also ursprünglich streng an Nützlichkeits- und Zweckerwägungen geknüpft war und sich in die Hermetik von Effizienzen (welcher Art auch immer) zurückzog, öffnet sich und geht die gekappten Verbindungen zur jeweiligen Umwelt wieder viel tiefer ein.
Hier schließt sich auch der Kreis mit der eingangs erwähnten Exkursion zum „Alexa“ am Berliner Alexanderplatz, denn den Veranstaltern schien es doch eigentlich darum zu gehen, den Menschen zu vergegenwärtigen, dass es um sie geht und nicht um die Interessen einiger weniger. Die Kritik an Kontrolle und Überwachung ist doch letztendlich am Anspruch orientiert, Räume für Möglichkeiten zu eröffnen und Architektur nicht als geplantes Funktionsgefüge zu betrachten, sondern als Lebensraum.
Erschienen: Urbanophil