Frédéric Chaubin hatte vor rund einem Jahr die beeindruckende Publikation „CCCP-Cosmic Communist Constructions Photographed“ über die spätsowjetische Architektur vorgelegt. Etwa zeitgleich erschien parallel zu einer Ausstellung im Hannoveraner „Sprengel Museum“ Roman Bezjaks Fotoband „Socialist Modernism – Archäologie einer Zeit“. Nun wird zum dritten Mal in kurzer Folge die jüngere, russische Baugeschichte in den Fokus genommen und kombiniert mit einer sehenswerten Ausstellung im Berliner „Martin-Gropius-Bau“, die noch bis zum 9. Juli laufen wird.
Der britische Architekturfotograf Richard Pare muss ein leidenschaftlicher wie beharrlicher Mann sein. Wie sonst ist zu erklären, dass er schon seit den Pennälertagen vom russischen Konstruktivismus begeistert war und später mit einigen Unterbrechungen 13 Jahre lang dessen Stammland bereiste, um sich auf die Suche nach den gebauten Spuren der revolutionären Avantgardearchitektur der 1920er und 1930er Jahre zu machen. Seit sechs Jahren bewegen sich mittlerweile die Ergebnisse seiner Fotoarchäologie über den Erdball. Sie wurden zuerst in Moskau gezeigt und wanderten anschließend nach New York, Thessaloniki, Barcelona, Madrid und London.
Das Konzept der Ausstellung ist recht klar, so steht sinnfällig eine offene, luftige und mit modernen Materialien gestaltete Verkörperung einer neuen, besseren Welt (W. Schuchows „Schabolowka-Funkturm“ von 1922) am Anfang der Schau, während deren Ende auch das der russischen Avantgarde symbolisiert – hier versinnbildlicht durch das „Lenin Mausoleum“ (1924-1930), das aus der Feder von A. Schtschusew stammt. Eine sehr gute Idee hatte Maria Tsantangolou. Die Mitkuratorin sorgte seinerzeit nämlich dafür, dass den Aufnahmen historische Fotos aus den Archiven des Moskauer Architekturmuseums und Exponate der „Sammlung Costakis“ beigestellt wurden – es gelingt also sehr anschaulich der direkte Vergleich über rund 80 Jahre hinweg.
Es werden Gebäude gezeigt, die in Russland nach der Oktoberrevolution gebraucht wurden. Die Industrie und das Nachrichtenwesen standen an erster Stelle, danach der Wohnungsbau und Architektur für das Kollektiv (Bildung, Gesundheit, Freizeit und Erholung). Dieses galt es nämlich, glücklich wie gefügig zu halten, damit der sozialistische Mensch darin gedeihe. Zu den Fotografien gesellen sich Architekturmodelle und verschiedene Gemälde. Hier begegnen einem die typischen geometrischen Studien zur Neudefinition des Raumbegriffs und die Versuche, die bildende Kunst in die dritte Dimension zu entlassen, um eine Synthese aus Malerei, Plastik und Architektur zu erreichen.
Die Forschung bzw. Ausstellungstätigkeit über „WChUTEMAS“, das russische Pendant zum „Bauhaus“, hatte Anfang der 1970er Jahre begonnen. Damals freilich noch ganz im Bann des Kalten Krieges wurde sie vor allem außerhalb der Sowjetunion betrieben. Den Rang von Kunstwerken mochte man dort den Exponaten offenbar nicht zubilligen und eine gewisse Ablehnung dem Konstruktivismus gegenüber scheint es in dessen Mutterland immer noch zu geben, so betonte Irina Korobina, die Direktorin des Moskauer „Schusev State Museum of Architecture“, jedenfalls die aktuellen Probleme, Gelder zur Erhaltung der Baudenkmale anzuwerben. Ferner mahnte Sie den fehlenden Willen der Behörden an, juristische Probleme im Umgang mit dem revolutionären Architekturerbe zu lösen, das seinerzeit den Aufbruch der sozialistischen Sowjetunion verkörpern wollte.
Apropos Aufbruch – neben den Architekten Le Corbusier, Werner Hebebrand und Ernst May, hat auch Bruno Taut in den Jahren des anschwellenden, stalinistischen Terrors nicht gezögert, 1932 für ein Jahr nach Moskau zu gehen. Zu groß waren offensichtlich der Idealismus und die Hoffnung, einer neuen Gesellschaft den Rahmen zu bauen. Ein Jahr zuvor schienen ihm allerdings schon leise Zweifel an der Realisierbarkeit der Utopie zu kommen, als er konstruktive Schwächen im Wettbewerbsbeitrag von „WOPRA“ zum „Haus des Sowjets“ in Moskau“ monierte: „Haben diese Architekten ein Material gefunden, das leichter als Luft ist?“. Tauts Desillusionierungsmuster gleichen denn auch denen seiner westlichen Kollegen, die einer zermürbenden Bürokratie, unselbstständiger Mitarbeiter, Konformismus und vor allem dem Vorwurf des Formalismus überdrüssig waren – so nämlich lautete die gängige wie despektierliche Bezeichnung der stalinistischen Kulturdoktrin für alles Missliebige.
Die Protagonisten der russischen Avantgarde, wenn sie überhaupt die Chance zum Bauen bekamen, dürften vor ähnlichen Problemen wie ihre ausländischen Kollegen gestanden haben und deshalb mag es auch nicht wundern, dass die in der Ausstellung abgebildeten Bauwerke nicht durchgängig transparent, fließend wie fliegend wirken, sondern flächig und teilweise mit ihren herkömmlichen, verputzten Lochfassaden daherkommen, wie neusachlich aufgepeppte, eklektische Hybriden des staatlich verordneten sozialistischen Realismus.
Diesen Punkt schneidet auch Jean-Louis Cohen in seinem Katalogbeitrag an und weist auf die äußerst heterogene Gemengelage der verschiedensten Avantgardistenkollektive hin, die allesamt ihr eigenes Programm verfolgten (z.B. ASNOWA, OSA, WOPRA, ARU oder auch OSA-später SASS genannt). Offenbar genügte es mancher Gruppe durchaus, hier und da einen Teil der Fassade zu verglasen, während Wladimir Tatlin mit dem „Denkmal der III. Internationale“ von einem 400 Meter hohen Turm aus Stahl träumte. Ein Motiv, dass wohl neben Kasimir Malewitsch mit seinem „Schwarzen Quadrat“ jedem Interessierten beim Stichwort Konstruktivismus schnell in das visuelle Gedächtnis kommen dürfte. Nicht zu vergessen natürlich der „Wolkenbügel“ (1925) von El Lissitzky, der möglicherweise den in der Ausstellung gezeigten Brückenübergängen am Charkower „Gosprom-Gebäude“ von 1929 als Inspiration gedient haben könnte.
Zu entdecken gibt es also für den Kundigen noch einiges und umso mehr für Diejenigen, die bislang kaum oder gar nicht mit dem in Russland offenbar ungeliebten Stiefkind der früh-sozialistischen Geschichte in Berührung gekommen sind. Die Schau „Baumeister der Revolution Sowjetische Kunst und Architektur 1915-1935. Mit Fotografien von Richard Pare“ ist noch bis zum 9. Juli im Berliner „Martin-Gropius-Bau“ zu sehen. Im Rahmen des „Gallery Weekend“ am Freitag, 27. April und Samstag, 28. April wird von 10 – 22 Uhr geöffnet sein.
Erschienen: AZ/Architekturzeitung