Zur „Entwicklungskonzeption Wohnen“ in Gera …

By cjg on 4. Januar 2016 — 4 mins read

Im Osten nichts Neues? Diese Frage dürfte sich spätestens nach der Präsentation der Wettbewerbsergebnisse zum „Stadtumbau Ost“ nicht mehr stellen. Der Strukturwandel in den neuen Bundesländern macht planerische Eingriffe in Städte nötig, die bislang nur in Südamerika oder Asien vermutet wurden.

So muß für Gera in einem „work in progress“, das das Wechselspiel von Investoren, Politikern, Stadtplanern, Architekten und Bürgern balanciert, das Kunststück vollbracht werden, die Handels-, Dienstleistungs-, Wohn- und Freizeitangebote einer Stadt zu stärken, die prognostisch in einem Zeitraum von dreißig Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung rund 40 % ihrer Einwohnerschaft verlieren könnte. Das damit der Wohnungsbestand in einem besonderen Maße betroffen ist, liegt auf der Hand. Die Geraer entwickelten ihre Ideen konsequent entlang der
allgemeinen Wettbewerbsvorgaben zur Stärkung der Innenstädte, Reduzierung des Angebotsüberhanges an Wohnraum und Aufwertung der von
Rückbau betroffenen Städte…

Mit der Stadtgründung im 10. Jahrhundert hatte Gera seinen wirtschaftlichen Schwerpunkt seit dem 16. Jahrhundert im Textil- und Wollgewerbe. Die industrielle Blütezeit setzte Ende des 19. Jahrhunderts durch den Einsatz von Dampfmaschinen in den Spinnereien ein. Städtebaulich ergab sich hierdurch eine Häufung von Ansiedlungen und Infrastrukturen entlang der Elster und der Bahntrassen in der Flussniederung. Im Stadtkern entstanden seinerzeit gründerzeitliche Quartiere mit regelmäßigen Straßenrastern. In der DDR war Gera eine Bezirksstadt. Die Ansiedlung von Werkzeugmaschinenbau, Elektronik, Feinmechanik und Optik führte zu einem Anwachsen der Bevölkerung. Die Plattenbausiedlungen „Gera-Lusan“ und „Bieblach-Ost“ sowie erhebliche bauliche Eingriffe in die Innenstadt sind Zeugen hiervon.

Die Prognosen für die ostthüringische Stadt sind deutlich. Im Jahr 2020 wird es dreimal soviel Senioren wie Personen unter 15 Jahren geben und der Einwohnerrückgang wir sich, von rund 114.000 heute, auf etwa 80.000 bis 90.000 fortsetzen. In 39 Pilotquartieren wurden in jüngster Zeit Leerstandsquoten von 20% bis 40% festgestellt. Die stadtweite Leerstandssituation liegt bei einem Durchschnittswert von rund 19%. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen machen sich die Planer keine Illusionen und sehen die Stadtentwicklung im Zeichen der Transformation. Der Leitbildentwurf formuliert daher die Umwandlung der Großstadt Gera zur „großen Mittelstadt“ Gera.

Das Szenario zur Transformation hält einen Fokus auf die Konsolidierung der innenstädtischen Quartiere. Das sukzessive Schrumpfen anderer Stadtteile ist ein nächster Schwerpunkt. Dieses soll geordnet und sozialverträglich geschehen und nur noch stabile Reste bzw. Siedlungskerne als clusterartige Netzpunkte in einem erneuerten und durchgrünten Stadtgewebe übrig lassen. Die geplante Verkleinerung geht mit einem Maßstabswechsel einher, der zu einer Einfamilienhaus- und Eigentumsnachfrage innerhalb von Gera führen soll und den Rückbau von Hochhäusern bis auf wenige Ausnahmen vorsieht.

Radikallösungen zur Stadtverkleinerung, wie den kompletten Abriss einiger Viertel, lehnt man entschieden ab und nimmt auch die Kosten für das Vorhalten der Infrastruktur (Wasser, Abwasser, Elektrizität, öffentlicher Personennahverkehr etc.) in den abzuschrumpfenden Arealen in Kauf. Im Geraer Lenkungsszenario kommt dem „Monitoring“, also dem relgelmäßigen Prüfen und Reagieren auf die Entwicklungen, die Rolle des Tempo- und Taktgebers der Transformationsmaßnahmen zu. Ob das „Monitoring“ allerdings der heilbringende Mechanismus ist, den dynamischen Prozess der möglichen kurz- und mittelfristigen Änderung der Rahmenbedingungen durch Stadtplanung und Bürger in den Griff zu bekommen und dabei auch noch den Spagat zu den Interessen der Politik und Wirtschaft zu vollführen, wird sich erst noch zeigen müssen.

Das räumliche Prinzip der starken Innenstadt mit peripheren stabilen Siedlungskernen wird durch die Anlage grüner Schneisen ergänzt, die die freiwerdenden Flächen füllen und allen Quartieren einen neuen Bezug zur Landschaft eröffnen. Die Stadt hätte dann keine eigentliche Grenze mehr und würde sich quasi in der Landschaft auflösen. Die Grünzüge sollen nahräumlich erschlossen werden und als sekundäres Wegesystem bis in die Innenstadt führen. Die Idee des Grünzugs als Lückenfüller passt sich zwar nahtlos in die polyzentrische Netzfigur ein und den Zeitgeist ein, provoziert durch ihre Ausschließlichkeit allerdings auch die Frage nach anderen Formen der Nutzung.

Die Geraer Innenstadt von heute zeigt sich heteronom und im spannungsreichen Zusammenwirken von Gründerzeithäusern, überdimensionierten Plattenbauten sowie jüngsten Zeugnissen eines globalisierten Architektur-Konsumpragmatismus. Hinzu kommt noch das typische Erbe sowjetischen Städtebaus mit seinen Solitären, Magistralen und bezugslosen Freiflächen. Der Einwohnerschwund ist auch in der Innenstadt erheblich und die meisten Plattenbauten sind überflüssig. Es gibt verschiedene Versuche, damit umzugehen. Diese reichen vom kompletten Abriss über ein „facelifting“, den teilweiser Abriss bis hin zur Ergänzung durch Neubauten. Die planerische Antwort des Weimarer Architekten Thomas Freytag auf den orgefundenen „Unraum“ einer großflächigen Lücke entlang der Breitscheidstraße schlägt beispielsweise ein gewaltiges „Edutainment- Center“ vor, durch das Gera um eine massenkulturkompatible Bildungseinrichtung bereichert werden soll.

Die „Entwicklungskonzeption Wohnen“ der Stadt Gera schneidet sehr komplexe Problemfelder an. Es bleibt zu hoffen, dass eine mögliche Resignation darüber schnell der Freude über die schier unglaublichen Möglichkeiten weicht, die eine so offene und spannende Stadtentwicklung bietet.
Erschienen: Deutsches Architektenblatt 12/02