Zur kinetischen Kunst von Michael Ernst …

By cjg on 25. Februar 2016 — 3 mins read

Im Reich der Natur
waltet Bewegung und That […].
Bewegung ist ewig
und tritt bei jeder günstigen Bedingung
unwiderstehlich in die Erscheinung.(1)

Michael Ernst ist Stahlbildhauer und kommt vom Schmiedehandwerk. Jahrelange Erfahrungen in der väterlichen Metallwerkstatt prägten seinen Umgang mit einem Material, das ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der Thüringer Autodidakt entfaltete sich ohne akademische Laufbahn. Das Werk des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida (1924-2002) gab ihm zunächst wichtige Impulse. Ernst begriff aber dessen poetische Archaik nicht nur formal bzw. räumlich, sondern gleichberechtigt zeitlich und materialbezogen. Und hier kündigte sich auch die Verschränkung von Stahl und Bewegung an, die ihn die kinetische Kunst entdecken ließ.

Mit dem US-amerikanischen Künstler George Rickey (1907-2002) fand der Thüringer einen der profiliertesten Vertreter der kinetischen Plastik im 20. Jahrhundert. Er konnte durch ihn auch sein Interesse an der Bewegung kultivieren und die dynamischen Wechselwirkungen einzelner Elemente im Raum untersuchen.
Ernsts Kunst ist stets im direkten Austausch mit der Umwelt, sei er durch
Menschen erzeugt oder auch durch natürliche Einflüsse wie den Wind. Auch
unsichtbare, jedoch höchst wirkungsvolle Kräfte wie die Erdanziehung, die
Fliehkraft oder die Trägheit der Masse sind wichtige und handelnde Größen. Sie
werden durch die Objekte wahrnehmbar. Hier kommt deutlich der Einfluss Rickeys zum Tragen, der die Kinetik folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Schwingen, Kreisen, Pendeln, Vibrieren von Teilen, die sich dabei durch den Raum bewegen – auf und ab, hin und her, einmal rechts, einmal links – und die Betonung dieser Bewegung durch Beschleunigen oder Verlangsamen – viel mehr Möglichkeiten gibt es ja nicht – aber das bescheidende Spektrum reicht aus, um daraus Meisterwerke entstehen zu lassen.“ (2)

Aber nicht nur Bewegung, sondern auch Balance liegt Michael Ernst am Herzen, denn in ihr zeigen sich Bewegung und Stillstand gleichzeitig. Als Möglichkeiten verbleiben sie im einen wie im anderen Zustand, d.h., dass auch ein unbewegtes Gesamtobjekt lediglich vorübergehend ruht. Es ist nicht still, sondern wartet quasi die nächste Bewegung ab. Dieses vorübergehende Ernst an die Grenzen der bildenden Kunst, denn seine kinetischen Objekte sind gewissermaßen auf dem Sprung und scheinen sprechen, klingen oder tanzen zu wollen. Lázsló Moholy-Nagy (1895-1946), einer der Gründerväter der kinetischen Kunst, drückte diese Art bewegtes Ruhen 1922 folgendermaßen aus: „Die vitale Konstruktivität ist die Erscheinungsform des Lebens und das Prinzip aller menschlichen und kosmischen Entfaltungen. In die Kunst umgesetzt bedeutet sie heute die Aktivmachung des Raumes mittels dynamisch-konstruktiver Kraftsysteme, d. h. die Ineinander-Konstruierung der in dem physischen Raume sich real gegeneinander spannenden Kräfte und ihre Hineinkonstruierung in den gleichfalls als Kraft (Spannung) wirkenden Raum.“ (3)

Wer primär den verborgenen Kraftfelden im Raum nachspürt, operiert auch ganz in der Nähe zu Poesie und Klang. Und tatsächlich brechen diese Themen in Ernsts jüngeren Arbeiten durch. So nahm er bereits 2002 am Thüringischen Symposium „Klangkunst-Kunstklang“ mit der Frage teil, wie seine kinetischen Skulpturen hörbar werden können. Die Erforschung des Klangs stellt auch einen weiteren Baustein im Übergang von der bildenden zur darstellenden Kunst und von der Statik zur Dynamik dar. Ein Übergang, der entlang am Kardinalthema jeder Bewegung liegt – der Zeit.

Die Zeit gibt die Möglichkeit, Kunst von der unbewegten Anschauung zu überführen in ein Werk als Bewegung. Ein Werk, das von den Kräften der Natur gespielt werden kann oder auch vom Menschen selbst. Folgerichtig ist hier auch wieder die Nähe zu Moholy-Nagy. Formulierte er doch vor gut 90 Jahren bereits in groben Zügen eine Programmatik, die heutzutage unter dem Stichwort der Performativität in aller Munde ist: „Deshalb müssen wir an die Stelle des statischen Prinzips der klassischen Kunst das Dynamische des universellen Lebens setzen. […] Praktisch: statt der statischen Material-Konstruktion (Material- und Form-Verhältnisse) muss die dynamische Konstruktion (vitale Konstruktivität, Kräfteverhältnisse) organisiert werden, wo das Material nur als Kraftträger verwendet wird. Die dynamische Einzel-Konstruktion weitergeführt ergibt das DYNAMISCH-KONSTRUKTIVE KRAFTSYSTEM, wobei der in der Betrachtung bisheriger Kunstwerke rezeptive Mensch in allen seinen Potenzen mehr als je
gesteigert, selbst zum aktiven Faktor der sich entfaltenden Kräfte wird.“ (4)

Erschienen: Katalog zur kinetischen Kunst bei Michael Ernst


1. von Goethe, Johann Wolfgang: Aus den Heften zur Naturwissenschaft, in: Maximen und Reflexionen, Text der Ausgabe von 1907 mit der Einleitung und den
Erläuterungen von Max Heckers, Frankfurt/M.: insel taschenbuch 1976, S. 88.

2. Rickey, George und Merkert, Jörn (Hg.): George Rickey in Berlin 1967 – 1992. Die Sammlung der Berlinischen Galerie, Berlin: Ars Nicolai 1992, S. 22-23.
3. Moholy-Nagy, László: Dynamisch-konstruktives Kraftsystem, in: Walden, Herwardt (Hg.): Der Sturm, Heft 12 (1922), S. 187.

4. Ebd.